Warum immer wieder Immanuel Kant?

    Von Dr. Werner Busch

    In diesem Jahr wird Immanuel Kant an vielen Orten der Erde gefeiert, in Kongressen, virtuellen Forschungsbegegnungen, Sonderveröffentlichungen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, in Museen ebenso wie in vielen anderen Medien. Selbst etwas dazu beizutragen scheint eine Sache des Muts, wenn nicht der Tollkühnheit zu sein, sobald man sich dieses umfangreiche angebotene Fach- und Detailwissen vor Augen hält. Eigentlich genügte es schon, die halbjährlich erscheinenden global angelegten Bibliographien der Kant-Gesellschaft e.V. zu verfolgen, um gänzlich verunsichert zu sein, Kant angemessen zu verstehen, zumal ein gewichtiger Teil der Veröffentlichungen zeigen soll, dass Kant in diesem und jenem Punkt irrte oder sein Gesamtwerk nicht schlüssig ist. Schon die im Folgenden beispielhaft angeführten kontroversen Beurteilungen von Kants Werk nähren Zweifel.

    Der alte Goethe nannte Eckermann gegenüber Kant wegen seiner tiefen Fortwirkung den vorzüglichsten der neueren Philosophen und bekannte dem jungen Schopenhauer, dass ihm selbst zu Mute sei, als ob er in ein helles Zimmer trete, wenn er eine Seite Kant lese. Dagegen steht Musils Törleß schon nach zwei Seiten Kant-Lektüre der Schweiß auf der Stirn, sei es aus Angst oder aus Ekel.

    Friedrich Paulsen, der 1898 ein viel gelesenes Kant-Buch veröffentlichte und dem die Gymnasien in Deutschland viel verdanken, hielt von Kants angeblich pietistischer Moral gar nichts, wohingegen zur gleichen Zeit Kant in Japan neben Konfuzius, Buddha und Sokrates als der vierte Weltweise dargestellt wurde.

    Eigentlich sollte der diesjährige zentrale Jubiläumskongress zum 300. Geburtstag Immanuel Kants um den 22. April herum gerade auch auf Einladung von Vertretern der dortigen Kant-Universität in seiner Geburtsstadt Königsberg/Kaliningrad stattfinden. Nun passt Kants Friedensphilosophie in ihrer Rationalität weder zur Hauptströmung des traditionellen russischen Selbstverständnisses noch zur aktuellen Politik Russlands, so dass diese Stadt kein internationaler Begegnungsort im Sinne Kants mehr sein durfte. Besitzt Kant wirklich Weltgeltung? Zum Glück konnte man nach Bonn an den Rhein ausweichen, in das Milieu westlicher Zivilisation, die viele heute in Frage stellen.

    Was ist da noch zu Immanuel Kant zu sagen oder zu schreiben? Als Schreibhypothese stelle ich mir an dieser Stelle vor, dass ich in der Schule von einem Kurs gefragt werde, was es mit diesem Jubiläumsrummel um Kant auf sich hat: Ich nehme also all meinen Mut zusammen und wage, selbst wenn es für Kant-Kenner sträflich vereinfacht wirkt, auf Folgendes hinzuweisen:

    1. Anmerkungen zu Kants Arbeitsmethode

    Kant besaß eine ungewöhnlich große Vorstellungskraft. Ein Engländer, der Kants Geographievorlesung besuchte, fragte ihn, wie lange er in London gelebt habe und ob er Architekt sei. Kant hatte nichts anderes getan, als die Londoner Westminsterbridge, die er nur aus seiner geschätzten Lektüre von Reiseberichten kannte, in allen Einzelheiten zu schildern.

    Diese besondere Vorstellungskraft kann man gut mit einer im Grunde befremdlichen Maxime verbinden, die Kant in einer Anmerkung der „Tugendlehre“ von 1797 formuliert. Er meint dort, dass es Pflicht sei, selbst in fehlerhaften Urteilen etwas Richtiges zu suchen, da diese ja von einem vernunftbegabten Wesen geäußert worden seien. Damit fordert Kant von allen Menschen eine absolute intellektuelle Offenheit.

    Die Verbindung dieser immensen dinglichen Vorstellungskraft mit der intellektuellen Offenheit führt nun dazu, dass Immanuel Kant in sein Werk nicht nur Mengen von Welt aufnimmt, sondern auch eine Vielzahl von philosophischen Lehrmeinungen. So greift er u.a. von Platon die Ideen auf, von Aristoteles die Naturzwecklehre, von Epikur u.a. den Inhalt der Humanität, von Cicero den sittlich bestimmten Bürger, von Hobbes die Rechtssicherheit, von Montesquieu die Gewaltenteilung, von Descartes das „Ich denke“, von John Locke den Empirismus, von Adam Smith den rationalen Altruismus, von David Hume die Subjektivität der Kausalität und von Jean Jacques Rousseau die Achtung des einfachen Menschen, dazu die vielen Dissertationen und Thesen aus der damals schon bunten deutschen und europäischen Universitätslandschaft.

    Eine andere Folge dieser außergewöhnlichen Aufnahmefähigkeit ist, dass alle philosophiegeschichtlich bedeutenden Werke Kants im Grunde Alterswerke sind. Er hatte immer noch etwas neu zu entdecken und zu verbessern. Schließlich war er 57 Jahre alt, als die bahnbrechende „Kritik der reinen Vernunft“ 1791 erschien. Die „Metaphysik der Sitten“ mit der Rechtslehre und der erwähnten Tugendlehre erschien z.B. erst zwei Jahrzehnte nach der ersten Ankündigung, weil Sonderprobleme z.B. das des Eigentums noch nicht geklärt waren. Kants Arbeit ist im wahrsten Sinne ‚work in progress‘, eine Tatsache, die es den Interpreten schwer macht, eindeutig zu urteilen, da Kant im Fortschritt seines Denkens Begriffe nicht immer einheitlich gebraucht.

    Nun kann leicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei Kants Philosophie um ein Potpourri oder ein Kaleidoskop von Einzelgedanken handelt. Das Gegenteil ist der Fall. Kant entwickelt feste Strukturelemente, an denen er die genannten philosophischen Anregungen orientieren kann.

    2. Strukturelemente in Kants Philosophie

    Scharfsinnig stellte Kant fest, dass es Gegenstände gibt, die sich begrifflich nicht vollständig bestimmen lassen. Die Hände z.B. sind den Eigenschaften nach völlig identisch, der einzige Unterschied besteht darin, dass es sich entweder um eine rechte oder linke handelt. Kant zieht den Schluss aus dieser Beobachtung, dass sich die intellektuelle Welt wesentlich von der räumlich-zeitlichen unterscheidet. Das gibt ihm wiederum die Freiheit, die Gedankenwelt selbstständig zu durchleuchten und z.B. die vier Kategorien als wissenschaftstaugliche Wahrnehmungsformen zu entwickeln. Etwas Weiteres bietet sich ihm an, nämlich die Welt nach räumlich-zeitlichen Verhältnissen zu beurteilen und nach gedanklichen. Daraus folgen als Paradoxe die Antinomien, so wie z.B. nach der Realität das Weltall kein Ende haben kann, gedanklich aber haben muss, weil alles ein Ende hat. So bleibt also nichts anderes übrig, als diese unauflöslichen Widersprüche der Antinomien auszuhalten.

    Nun ist es ja ganz schön, auf die Gedankenwelt zu setzen. Aber Kant weiß – genauso wie wir es jeden Tag wahrnehmen -, dass unser mentaler Anteil ebenso Richtiges wie den größten Unsinn produziert. In diesem Sinne misstraut Kant allem, was nicht logisch abgesichert ist. Aber woher kann er die Sicherheit der Vernunft nehmen?
    Kant greift wieder einmal eine damals aktuelle Kontroverse auf, nämlich die unter Juristen, ob man einen Betrunkenen, dessen Bewusstsein bei der Untat fast auf null gesunken ist, überhaupt bestrafen kann. Die einen sagen nein, die anderen, dass der Täter sich nicht hätte besaufen müssen, also anders hätte handeln können.

    Dieser Lösung mit Hilfe eines Irrealis schließt sich Kant an und ist begeistert davon, dass er hier eine gedankliche Tatsache in Form eines Irrealis gefunden hat, die von uns in der Beurteilung von eigenen und Handlungen anderer tagtäglich wirksam gebraucht wird.

    Damit ist für Kant ebenfalls das Freiheitsproblem gelöst, das er in die Antinomien einbettet: Natürlich sind wir als organisch-kreatürliche Wesen naturkausal zu beurteilen und damit nicht frei. Aber als vernünftige Menschen sind wir selbstverständlich frei, so wie wir uns hätten und haben sinnvoll selbst bestimmen können.

    3. Kants ganzer Stolz: Der kategorische Imperativ

    Wenn wir anders hätten handeln können, bleibt für Kant und für uns doch die Frage, welcher Regel wir folgen sollen. Wieder wird Immanuel Kant fündig, und zwar in Form einer ausführlichen Reflexion, die Pierre Bayle in seiner Toleranzschrift veröffentlichte: Man solle im Sinne der Toleranz doch überlegen, welches Gesetz, das Verhalten regelt, in jedem anderen Land eingeführt werden könnte. Ein Volltreffer für Kant: Diese Reflexion wird zum kategorischen Imperativ eingedampft: „Ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“

    Von nun an bleibt diese oberste Regel immer wiederholtes Leitmotiv der sich breit entfaltenden Schriftstellerei Kants, natürlich in der praktischen Vernunft, in der Analogie zur Ästhetik, in der Religionsschrift, nach der sich die Kirchenmitglieder gegenseitig in der Anwendung des kategorischen Imperativs bestärken, und natürlich vor allem im Recht selbst.

    Mit der Freiheit, die sich im kategorischen Imperativ verwirklicht, ist auch die Würde, die keinem Menschen genommen werden darf, befestigt. Diese zeigt sich selbstverständlich auch im vielgescholtenen und vielbewitzelten Eherecht Kants. Zwar beginnt er mit der wenig hilfreichen, damals weit verbreiteten drastischen Lehrbuchdefinition der Ehe, aber Kant argumentiert dann, vielleicht als Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, in eine ganz andere Richtung, nämlich hin zu einer Schicksalsgemeinschaft nach dem von ihm bewunderten Römischen Recht, in der die Ehepartner unabhängig von der jeweiligen kulturell geprägten Arbeitsteilung ihre Würde frei bewahren, obwohl die Natur die gegenseitige körperliche Abhängigkeit eingerichtet hat.

    Als Höhepunkt von Kants Buchproduktion gilt für viele die kleine geistreiche Schrift „Zum ewigen Frieden“, die trotz ihrer Kürze zu einer der Grundlagen des modernen um Frieden ringenden Völkerrechts einschließlich Völkerbund und UNO wurde. Zum Glück verlegt das „Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften“ der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine sprachlich geglättete Ausgabe samt Originaltext. Denn es bleibt dabei: Kants komplexe, kaum endende Gedankenfolge ist nun einmal lesend schwer zu verfolgen.

    4. Ist Immanuel Kant Pessimist oder Optimist?

    Der schon genannte Friedrich Paulsen stellt Kant in die Linie der Pessimisten von Thomas Hobbes bis Arthur Schopenhauer. Tatsächlich macht Kant das radikale Böse im Menschen zum Thema in seiner Religionsschrift, er kennt die Gebrechlichkeit der Welt und geißelt die übliche Verlogenheit des politischen Geschäfts. Aber wie schon gezeigt, bietet es sich an, bei Kant immer nach der Gegenseite zu suchen, und da setzt Kant auf die Mut machende Kraft der sozialen Vernunft. Da wir Menschen geglückte politische Fortschritte nicht vergessen, selbst wenn es schlimme Rückschläge gibt, besteht die Aussicht, dass wir durch unsere Vernunftfähigkeit zu einem friedlichen Zusammenleben auf der ganzen Erde gelangen: Aufgabe bleibt es immerhin, sagt uns unser mentaler Anteil. Und so ist Kant weder Pessimist noch Optimist, am klarsten gesagt: beides. Es ist bei Kant wie bei Münchhausen: Der Morast ist da, aber der tapfere Baron zieht sich selbst am Schopf aus dem Sumpf.

    5. Der Meister der Aspekthaftigkeit

    Am Anfang der „Kritik der Urteilskraft“, als Kant versucht, das ästhetische Erlebnis zu isolieren, nennt er einige Möglichkeiten, einen Palast zu beurteilen: Als Gegenstand sensationeller Aufmerksamkeit, nach persönlichen Bedürfnissen, nach der Eitelkeit der Auftraggeber, nach der Plackerei der Arbeiter oder nach der allgemeinen Nutzlosigkeit. Aber dann schließt er lapidar: “Nur davon ist jetzt nicht die Rede.“ D.h. Kant bestimmt immer sehr genau, aus welchem Aspekt er gerade sein Thema behandelt, ohne alle anderen für andere Betrachtungen auszuschließen.

    Daher führt es zu Fehlinterpretationen, wenn man diese systematische Aspekthaftigkeit des kantischen Denkens übersieht. So wird z. B. dessen angeblicher Dualismus gern voller Häme kritisiert, da dieser den Leib vom Geist trenne und damit herabmindere. Das Gegenteil ist wieder einmal der Fall: Körper und Geist bilden natürlich eine Einheit, wenn wir uns Menschen als Organismus verstehen, den der Naturzweck physiologisch zusammenhält. Allerdings bietet es sich an, die Vernunft wie oben gezeigt gesondert zu behandeln, um den Eigenschaften des Mentalen gerecht zu werden.

    Nun muss man im Sinne der als Ausgangspunkt gewählten Kontroversen das, was Kant veröffentlichte, keineswegs für richtig oder wahr halten, genau so wenig wie das, was ich hier über ihn zu schreiben wage: So ist es nun einmal in der Philosophie.
    Vielleicht aber kann man die Fülle der Weltverarbeitung, die Kant leistete, bedenken, seine intensive Arbeit am Begriff und seine rational tief begründete universelle Friedfertigkeit berücksichtigen, vielleicht auch seine Empfehlung, wie zu denken ist, nämlich selbst, an der Stelle des anderen und mit sich selbst einstimmig. Wenn wir dazu feststellen, dass Kant den Lebenströstungen der Hoffnung und des Schlafs, die Voltaire meinte, das Lachen hinzufügte, dann drängt sich der Eindruck auf, dass wir von Kant auch heute immer noch viel lernen können. Dem, von dem man viel lernt, sollte, könnte oder müsste man eigentlich danken. Also: Vielen Dank Immanuel Kant!

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