Mythos Praxisphasen – aus wissenschaftlicher Perspektive

    von Thomas Langer  

    Seit inzwischen 16 Jahren verfolgt der wissenschaftliche Beirat des DPhV das Ziel, den Diskurs zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu bildungspolitisch relevanten Themen für die Interaktion zwischen Wissenschaft, Bildungspolitik und Schule fruchtbar zu machen. Dabei werden sowohl gemeinsame Perspektiven reflektiert als auch Themen kontrovers diskutiert. Vor zwei Jahren ging es um die Frage „Schule nach Corona – was haben wir gelernt?“ Hierzu liegt inzwischen der mit dem Verleger Klinkhardt herausgegebene Band aus der Reihe „Gymnasium – Bildung – Gesellschaft“ vor. Im Jahr 2022 tagte der Wissenschaftliche Beirat zum Thema Bildungssprache Deutsch. Auf seiner Tagung im Oktober 2023 in Göttingen stand der „Mythos Praxisphase“ im Fokus.  

    Schulpraktika ja – lange Praxisphasen nein  

    In ihrem Eingangsstatement stellte Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing den Standpunkt des DPhV zur Lehrerbildung generell dar: „Wir treten ein für eine akademische, universitäre Lehrerbildung, für ein 24-monatiges Referendariat und eine begleitete Berufseinstiegsphase sowie berufsbegleitendes lebenslanges Lernen.“ Der DPhV hält einen kumulativen, kognitionsbezogenen Kompetenzaufbau in einem grundständigen Lehramtsstudium für richtig – schulartspezifisch und für das gymnasiale Lehramt mit anspruchsvoller Fachlichkeit in zwei Fächern sowie einem fachdidaktischen und einem erziehungswissenschaftlichen Anteil. 

    Mythos Praxisphasen: DPhV-Vorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing

    DPhV-Vorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing stellte zu Beginn der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats die Haltung des DPhV zur Lehrkräfteausbildung dar. Foto: DPhV/Thomas Langer

    Für die zweite Phase begründete Susanne Lin-Klitzing die Forderung nach zwei Jahren Dauer: Nur so könne nach dem ersten Jahr  der eigenverantwortliche Unterricht optimal umgesetzt werden. Zudem biete sich nur in diesem Zeitraum nach dem ersten Jahr die Möglichkeit, gegebenenfalls die Schule zu wechseln und neu zu starten. Einen eigenverantwortlichen Unterricht von Anfang an betrachtet der DPhV als falsch. Neben der Überforderung der Referendarinnen und Referendare bestehe hier die Gefahr, dass sich falsche Routinen einschleifen. „Praktika begrüßen wir, insbesondere um den Perspektivenwechsel von der Schülerin, dem Schüler sowie von der und dem Studierenden hin zur Lehrkraft vollziehen zu können“, erklärte Lin-Klitzing. „Praxisphasen im Lehramtsstudium, die Studierende mit Referendaren oder Lehrkräften gleichsetzen und in welchen in Teilen eigenverantwortlich unterrichtet wird, lehnen wir ab.“  

    Beibehaltung bzw. Rückkehr zum Staatsexamen 

    Gleichermaßen ablehnend äußerte sich die Bundesvorsitzende gegenüber einer Verkürzung des Referendariats aufgrund von ins Studium integrierten Praxisphasen. Für einen anspruchsvollen Unterricht brauche es fachliche und fachdidaktische Voraussetzungen. Es gelte, falsche Routinenbildung aufgrund fehlender Theoriebildung und zu früher Praxis zu vermeiden. Kritik äußerte die Bundesvorsitzende an der in vielen Bundesländern erfolgten Umstellung des Lehramtsstudiums auf Bachelor und Master. Diese habe zu einer Verlängerung des Studiums und einer wenig sachgerechten Verkürzung des Referendariats geführt. Die Länge des Vorbereitungsdienstes variiere mittlerweile beliebig zwischen 12 und 24 Monaten. „Wir präferieren deshalb das Staatsexamen.“ Das Lehramtsstudium lasse sich so kürzer und zielstrebiger gestalten. Zudem könne so die Lehrkraft nicht schon nach dem Bachelor vor eine Klasse gestellt werden.  

    Mythos Praxisphasen: Arnd Niedermöller

    Arnd Niedermöller, Schulleiter des Immanuel-Kant-Gymnasiums Berlin-Lichtenberg und Vorsitzender der Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren, brachte schließlich die Sicht der Schulleitungen an den Gymnasien in den wissenschaftlichen Beirat ein. Foto: Thomas Langer

    Eine entschiedene Abfuhr erteilte Lin-Klitzing auch einem dualen Studium. Kritisch reflektierte sie die Wirkung von frühen und immer längeren Praxisphasen mit immer mehr eigenverantwortlichem Unterricht während des Studiums: Diese seien ein unpassendes Instrument zur Feststellung der Eignung für den Lehrerberuf. Vielmehr dienen sie der reinen Unterrichtsabsicherung. Diese Positionen des DPhV kontrovers zu diskutieren, sollte im Anschluss die Aufgabe des wissenschaftlichen Beirates sein.  

    „Mythos Praxisphase“ aus verschiedenen Perspektiven 

     Nach einer grundlegenden wissenschaftlichen Einordnung und der Vorstellung von empirischen Ergebnissen zu Effekten universitärer Praxisphasen betrachteten die Referentinnen und Referenten den „Mythos Praxisphase“ aus unterschiedlichen Perspektiven – denen der Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Erziehungswissenschaften an den Universitäten sowie aus den Perspektiven der zweiten Phase und der Schulleitungen.  

    Empirische Forschung zu Schulpraktika 

    Dr. Kris-Stephen Besa von der Pädagogischen Hochschule Thurgau berichtete von bisherigen Ergebnissen empirischer Forschung zu Schulpraktika. Von allen Studienelementen würden diese von Studierenden am höchsten geschätzt. Im Nachhinein jedoch werde ihre Bedeutsamkeit stark relativiert. Dass ihre Ziele durch Langzeitpraktika oder gar Praxissemester besser erfüllt werden könnten, sei nach den Studienergebnissen fraglich. Die Forschung zeige auch: Die Rolle der Mentorinnen und Mentoren und die Qualität der Nachbesprechungen ist von hoher Relevanz. In seinem Fazit forderte Dr. Besa, in Zukunft kritischer zu hinterfragen, was Langzeitpraktika erreichen könnten und ferner zu thematisieren, welche Nachteile oder unerwünschten Folgen diese Praxisaufenthalte haben könnten. Diese Perspektive habe nämlich bisher kaum Einzug in den Diskurs gehalten. 

    Mythos Praxisphasen: Prof. Dr. Friederike Korneck

    Prof. Dr. Friederike Korneck stellte Microteaching und videogestütztes kollegiales Feedback in Unterrichtsversuchen vor. Foto: Thomas Langer

    Auch Professor Dr. Jürgen Oelkers, einer der langjährigen Teilnehmer des wissenschaftlichen Beirates, reflektierte kritisch über Praxisphasen: Es sei an der Zeit, Wirkungsillusionen diesbezüglich aufzugeben. Oelkers brachte die Schweizer Perspektive in die Runde ein. In unserem Nachbarland gibt es kein Referendariat. Die berufspraktische Ausbildung ist dort Teil des Studiums. Was er am Schweizer Modell als positiv bewertete, ist die enge Verknüpfung von Gymnasien und Hochschulen insbesondere im Kanton Zürich. 

     Dr. Jochen Sauer von der Universität Bielefeld verdeutlichte an konkreten Beispielen, wie in Praxisphasen Situationen in den Blick gerückt werden können, in denen die Fachlichkeit von großer Bedeutung ist. Er stellte in der Folge die Schlüsselfrage nach den fachspezifischen Kernpraktiken, die sowohl im Fachstudium als auch in den Praxisphasen von Bedeutung sind. 

    Nach dem angelsächsischen Ansatz der „core practises“ lassen sich bestimmte wissenschaftliche Praxen auf die Unterrichtspraxis übertragen. 

    Microteaching und Videoanalyse 

    Professorin Dr. Friederike Korneck von der Goethe-Universität Frankfurt referierte als Vertreterin der Fachdidaktik darüber, was videogestütztes kollegiales Feedback in Unterrichtsversuchen am Ende des Studiums leistet. Ihre Schilderungen von Microteaching-Veranstaltungen im Bereich der Physikdidaktik fanden in der Runde großen Anklang. Man war sich darüber einig, dass Videoanalyse und Feedback sehr effektiv seien und häufiger genutzt werden sollten. Professor Oelkers sprach sich dafür aus, lieber kurze und effektive Zeitinseln für Praxiserfahrungen statt längerer Praxisphasen zu nutzen und hierbei Videofeedback einzusetzen. 

    Qualität – nicht Quantität 

    Professor Dr. Thilo Kleickmann aus Kiel vermittelte die Sicht der Erziehungswissenschaften. Er sprach über die Herausbildung professioneller Kompetenz und situationsspezifischer Fähigkeiten von angehenden Lehrkräften: Dass diese erlernbar seien, sei gut belegt. Anhand verschiedener Studien konnte er zeigen, dass nicht die Quantität der Praxisphasen entscheidend sei, sondern die Qualität der Begleitung. Eine größere Bedeutung müsse deshalb der Qualifizierung der Mentorinnen und Mentoren zukommen, die bislang sehr unsystematisch erfolgt sei. Kleickmann stellte einen fachübergreifenden Coaching-Ansatz vor, der diesem Anspruch Rechnung trägt. Auch in diesem Modell kommen Videoanalysen zum Einsatz. 

    Verzahnung der ersten und zweiten Phase  

    Als Vertreter der zweiten Phase der Lehrerausbildung sprach Helmut Klaßen, Bundesvorsitzender des Bundesarbeitskreis Lehrerbildung (bak). Der bak hat sich zum Ziel gesetzt, die Verzahnung der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung zu verbessern. Der Arbeitskreis wünscht sich eine enge Kooperation mit den Hochschulen, verbunden mit Hospitationen von Seminarleitungen, Fachseminarbesuche und die kontinuierliche Pflege eines ePortfolios. Die zweite Phase müsse mehr auf die Inhalte der ersten Phase bauen können. Dies erfordere eine intensive Kooperation. Klaßen betonte außerdem, dass die Wirkmächtigkeit des Referendariats in hohem Maße von der Qualität der Begleitung und des Beratungsangebots abhängig sei. Praxisphasen an Hochschulen und Universitäten müssten daher von qualifizierten Praktikern und somit von den Ausbilderinnen und Ausbildern der zweiten Phase begleitet werden. Dies erhöhe auch die Verzahnung der Phasen. Die Qualifikation der Beraterinnen und Berater habe folglich eine hohe Bedeutung. 

    Perspektive der Schulen 

    Arnd Niedermöller, Schulleiter des Immanuel-Kant-Gymnasiums Berlin-Lichtenberg und Vorsitzender der Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren, brachte schließlich die Sicht der Schulleitungen an den Gymnasien in den wissenschaftlichen Beirat ein. An seiner Schule in Berlin befinden sich in der Regel 15–20 Studierende in ihren Praxissemestern. Diese unterrichten bis zu 32 Stunden im ganzen Semester und werden von eigens ausgebildeten Mentoren intensiv betreut. Eine Lehrkraft leistet die Koordination an der Schule. Vom Land Berlin erhält die Schule dafür eine zusätzliche Lehrerstelle zugewiesen. Als Schulleiter sieht Niedermöller das Praxissemester als eine Win-win-Situation: Lehrkräfte seiner Schule werden für Unterrichtsentwicklung zusätzlich ausgebildet und bekommen dafür Entlastung. Zudem erhalten Gymnasien an den Universitäten einen Eindruck von möglichen zukünftigen Kolleginnen und Kollegen – die Bindung der Studierenden an ihre spätere Schule kann also „vom Hörsaal aus“ erfolgen. Als ausbaufähig schätzte Niedermöller die Zusammenarbeit mit der Universität ein. Oft komme die Meldung der Praktikantinnen und Praktikanten sehr spät. Das verursache Schwierigkeiten in der Planung des Unterrichts. 

    Kritisch sieht Niedermöller die Verkürzung des Referendariats aufgrund der Einführung des Praxissemesters: Studierende seien – auch in ihrer persönlichen Entwicklung – noch nicht auf dem Niveau von Referendarinnen und Referendare. Auch aus schulorganisatorischen Gründen sehen Schulleiterinnen und Schulleiter einen nur 18-monatigen Vorbereitungsdienst als problematisch an. Außerdem seien seit der Umstellung auf Bachelor/Master mitunter erhebliche fachliche Lücken bei den Studierenden erkennbar, was sich auch auf die Qualität von Unterricht auswirkte.  

    Zu frühe Praxisphasen nicht zielführend 

    Als Fazit lässt sich nun ziehen: Die Empirie spricht gegen den Nutzen insbesondere früher Praxisphasen als Eignungsüberprüfung und für die Entwicklung von gutem Unterricht am Gymnasium. Für diesen braucht es zwingend eine solide fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung an den Universitäten. Zu frühe Praxisphasen sind nicht zielführend, da sie zur Verstetigung falscher Muster führen können. Ohnehin ist die Verkürzung des Referendariats aufgrund der Einführung von Praxissemestern vor allem ein Sparmodell in der Schulpolitik. In allen Praxisphasen braucht es aber eine enge Betreuung durch gut ausgebildete Mentorinnen und Mentoren. Die politischen Entscheider müssen also auch hier zusätzliche Ressourcen bereitstellen. 

    Was als weitere lohnenswerte Anregung aus dem wissenschaftlichen Beirat mitgenommen werden kann, ist die Verbesserung der kollegialen Feedbackkultur durch Szenarien von Videoanalysen. Hier steckt ein großes Potenzial für die Unterrichtsentwicklung. 

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    Susanne Lin-Klitzing / David Di Fuccia / Thomas Gaube (Hrsg.) 

    Schule nach Corona – was haben wir gelernt? 

    Dokumentation der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates 2021  

    Schule nach CoronaWas soll aus den Corona-Erfahrungen bleiben für die zukünftige Aufgaben- und Funktionsbeschreibung von Schule und Unterricht? Wie wird das Lehren und Lernen „nach“ Corona in einem anspruchsvollen Fachunterricht durch digitale Technologien weiterentwickelt, um schulisch-unterrichtliche Ziele besser zu erreichen? Divergieren die retrospektiven Perspektiven zu den schulischen Corona-Erfahrungen der Basis, also der Lehrkräfte, der Schulleitungen, deutlich von denen der Kultuspolitiker? Wird die parallel zu Corona ins Leben gerufene „Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ mit ihren Empfehlungen zu einem neuen, wirklich wissenschaftsorientierten Steuerungsinstrument der Schul- und Bildungspolitik? 

    Diesen und weiteren Fragen stellen sich die Autorinnen und Autoren aus Philologenverband, Kultuspolitik, Schulleitung, den Bildungswissenschaften, der Erziehungswissenschaft, der Pädagogischen Psychologie, den Fachdidaktiken und der Medizin im vierzehnten Band der Reihe „Gymnasium – Bildung – Gesellschaft“. 

     

     

     

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