Stammtisch statt Standardabweichung

    Wie PISA-Chef Andreas Schleicher sich und die PISA-Studie kurz vor dem Internationalen Tag der Bildung diskreditiert

    Von Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing

    Am 24. Januar ist der Internationale Tag der Bildung, den die UNESCO initiiert. Er soll sich 2024 dem Kampf gegen Hass im Netz durch Bildung widmen. Nicht nur in ihrem Weltbildungsbericht 2019 weist die UNESCO Lehrkräften eine positive Schlüsselfunktion bei der Vermittlung hochwertiger und chancengerechter Bildung zu. Rechtzeitig dazu hat sich Andreas Schleicher, OECD-Direktor des Direktorats für Bildung und internationaler Koordinator der PISA-Studien, nun zu den Ergebnissen der letzten PISA-Studie und ihren Ursachen zu Wort gemeldet:

    Wer erwartet, dass der Chef einer der öffentlichkeitswirksamsten Studien zum Vergleich der „Leistungsfähigkeit“ von Bildungssystemen bei seiner Sicht auf das deutsche Schulsystem auf die von ihm, oder – wie man das von einem Wissenschaftler erwarten dürfte – von anderen erhobenen Daten zurückgreifen und diese differenziert analysieren und in den Kontext stellen würde, der wird sich beim jüngsten Interview von Andreas Schleicher in den Stuttgarter Nachrichten verwundert die Augen reiben. Denn statt Mittelwerten und Standardabweichungen gibt es Stereotype und Stammtischparolen. Schnell ist da das Grundübel ausgemacht: Die Lehrerinnen und Lehrer jammern einfach zu viel und arbeiten zu wenig – was stört es den Wissenschaftler da, dass wissenschaftliche Erhebungen regelmäßig zum gegenteiligen Ergebnis kommen? Dass die Unterrichtsverpflichtung der deutschen Lehrkräfte so hoch ist wie fast nirgendwo anders, das erwähnt Andreas Schleicher nicht. Stattdessen fordert er die Lehrkräfte auf, Lernsoftware doch einfach selbst zu entwickeln – dass es erst seit Corona überhaupt nach und nach ausreichend viele verfügbare digitale Endgeräte in den Schulen gibt und dabei Fragen des Urheberrechts und des Datenschutzes in Deutschland immer noch ungeklärt sind, ficht den Überzeugten da nicht an. Und Schülerinnen und Schüler zu Hause besuchen, das ist doch bitte auch noch drin – ob bei schnell einmal über 100 Schülerinnen und Schülern am Tag pro Lehrkraft dafür die ansonsten nachmittags stattfindenden Arbeitsgemeinschaften, (digitalen) Unterrichtsvorbereitungen, Klausurkorrekturen oder Konferenzen zu Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf ausfallen sollen, dazu äußert sich der Weise aus Paris nun leider nicht.

    Dass dann nicht nur für die Organisation von Kurs- und Klassenfahrten, sondern auch der von der Wirtschaft so sehr geliebten Berufspraktika weniger Zeit bliebe – das wäre sicher eine Folge, die Schleichers Arbeitgeberin, der OECD, so gar nicht gefallen dürfte.
    Überhaupt: Weniger „nach oben schauen“ sollen die willfährigen Befehlsempfängerinnen und -empfänger, die sich laut Schleicher Lehrkräfte nennen – ob er damit meint, dass sie die ganzen Erlasse der Kultusministerien nicht so ernst nehmen sollen? Die Kultusministerinnen und -minister, die die PISA-Studie immer wieder neu in Auftrag geben und finanzieren, werden überrascht die Augenbraue heben. Und schließlich noch das: Naturwissenschaften sollten nicht unterrichtet werden wie Religion, belehrt uns der gelernte Physiker – und macht dabei gleich zwei peinliche Fehler: denn erstens werden die Naturwissenschaften schon lange nicht mehr so unterrichtet, zweitens aber Religion eben auch nicht. Und spätestens da zeigt sich, dass Andreas Schleicher, obschon Chef der großen Datenmaschine PISA, seine eigene Erfahrung höher schätzt als die wissenschaftliche Datenlage – und dabei den aktuellen Alltag in deutschen Regelschulen offenbar nicht kennt.

    Wenn aber selbst der PISA-Chef der OECD all die empirischen Daten der Wissenschaftler nicht braucht, würden wir den Schulen, den Schülerinnen und Schülern sowie ihren Lehrkräften nicht einen Gefallen tun, zukünftig auf diese aufwendigen Erhebungen, in jedem Falle aber auf eben diesen Chef des OECD-Direktorats Bildung zu verzichten?

    Den Kultusministerinnen und -ministern jedenfalls müsste diese Art der PISA-Interpretation zu denken geben, denn derart vorurteilsbehaftete Zuschreibungen gegenüber deutschen Lehrkräften müssen jedem Dienstherrn, der seine Lehrkräfte wertschätzt, sie halten und dringend neue gewinnen will, ein Gräuel sein.

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