Gibt es an unseren Schulen ein Antisemitismus-Problem, Herr Klein? 

    Von Karolina Pajdak 

    Berlin – Beim grausamen Terrorangriff der radikalislamistischen Hamas auf Israel wurden mehr als 1000 Menschen getötet, mehr als 4000 verletzt und mehr als 200 Israelis in den Gazastreifen entführt. Nach dem darauf folgenden Krieg im Nahen Osten kam es in Deutschland zu Demonstrationen in vielen Städten, auf denen auch Israel-Flaggen verbrannt und antisemitische Parolen verbreitet wurden. PROFIL sprach mit Dr. Felix Klein, dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. 

     

    PROFIL: Dr. Klein, Sie sind seit fünf Jahren Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung. Hatten wir in Deutschland bis zum 7. Oktober überhaupt ein Antisemitismus-Problem? 

    Portrait Felix Klein

    Felix Klein (55) ist Jurist und Diplomat. Seit 2018 ist er der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Credit: BMI

    Dr. Felix Klein: Ja, wir hatten schon immer ein Antisemitismusproblem, auch nach 1945. Die Einrichtung meines Amtes 2018 war das ehrliche Eingeständnis der deutschen Politik, dass dieses Problem existiert und wir strategisch damit umgehen müssen. Wir müssen Antisemitismus systematisch bekämpfen und nicht nur auf einzelne Vorfälle reagieren. 

    PROFIL: Der 7. Oktober, der Terror-Angriff der Hamas auf Israel, markiert eine Zäsur in der Geschichte des jüdischen Staates. Seitdem haben wir zahlreiche propalästinensische und antisemitische Demonstrationen in Deutschland erlebt. Was hat sich am 7. Oktober verändert? 

    Klein: Was uns dieser barbarische Angriff gezeigt hat, ist die tödliche Dimension von Antisemitismus, die Vernichtungsideologie der Hamas. Der 7. Oktober hat ganz deutlich gezeigt, dass Antisemitismus etwas anderes ist als Rassismus. Der Rassist kann gut mit seinem Opfer leben, solange er es unterdrückt. Doch Antisemiten wähnen sich in einer Verteidigungssituation. Ihnen bleibt aus ihrer Sicht nur die Vernichtung allen jüdischen Lebens. Schon in der Gründungscharta der Hamas steht der Aufruf, alle Juden auf der Welt zu töten. Das wurde bei uns viel zu wenig wahrgenommen. Was wir auf deutschen Straßen seit dem 7. Oktober gesehen haben, zeigt uns sehr deutlich, dass unsere Integrationspolitik besser werden muss. Wir haben zugelassen, dass bei uns in manchen Städten Parallelgesellschaften entstehen, die so von Hass gegen Juden und Israel erfüllt sind, dass dort nach einem solch barbarischen Akt keine normale menschliche Reaktion wie zum Beispiel Mitgefühl gezeigt wird, sondern Süßigkeiten verteilt werden. 

    PROFIL: Hat Sie dieses Ausmaß von Antisemitismus, was wir auf den Straßen gesehen haben, überrascht? 

    Klein: Das Ausmaß hat mich nicht überrascht, aber der Grad der Organisiertheit. Nur 20 Minuten nach dem Angriff auf das Krankenhaus im Gaza-Streifen, der zunächst Israel zugeschrieben wurde, demonstrierten bereits hunderte Menschen vor dem Brandenburger Tor mit antisemitischen Parolen. 

    PROFIL: Seit 2015 sind auch immer mehr Schülerinnen und Schüler aus muslimischen Ländern zu uns gekommen. Haben wir ein Antisemitismus-Problem an unseren Schulen? 

    Klein: Antisemitismus an den Schulen hat viele Quellen. Natürlich haben wir aktuell viele Schülerinnen und Schüler an unseren Schulen, die in Ländern sozialisiert wurden, wo Hass auf Israel an der Tagesordnung ist. Mein Eindruck aber ist, dass diese Menschen mit pädagogischen Maßnahmen erreichbar sind. Die Extremform von Antisemitismus, bei der zum Tod von Juden aufgerufen wird, kommt vor allem von Menschen, die schon sehr lange in Deutschland leben und zum Teil auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben. 

    PROFIL: Kurz nach dem Hamas-Angriff zeigten Schüler an einem Gymnasium in Berlin-Neukölln die Palästinaflagge. Ein Lehrer nahm sie ihnen weg. Wie sollen sich Lehrkräfte denn richtig verhalten? 

    Klein: Der Lehrer hat alles richtig gemacht. Er hat nämlich sofort reagiert. Solche Vorfälle darf man nicht einfach so stehen lassen. Man muss die Schüler aber ernst nehmen und fragen, warum sie das machen. Niemand wird als Antisemit geboren. Dieser politische Konflikt ist hochemotional aufgeladen und soll nicht den Schulfrieden stören. Debatten aber müssen zugelassen werden. 

    PROFIL: Wie sollten sich Lehrkräfte verhalten, die von ihren Schülerinnen und Schülern mit Sprüchen wie „From the river to the sea, Palestine will be free“ konfrontiert werden? 

    Klein: Sie sollen erklären, was das eigentlich bedeutet – nämlich in diesem Fall die Auslöschung des Staates Israel und der Tod von Millionen Menschen. Wichtig ist auch, die Gründung des Staates Israel genau zu erklären. Hier gibt es tolle Fortbildungen und Materialien u.a. vom Anne Frank Zentrum Berlin und dem Mideast Freedom Forum, die ich Lehrkräften gerne empfehlen kann. 

    PROFIL: Wo ist die Grenze zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus? 

    Klein: Kritik am israelischen Regierungshandeln ist absolut legitim. Wer die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik oder den Verlauf der Schutzmauer zwischen dem Westjordanland und Israel kritisiert, ist nicht antisemitisch. Aber wer dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht und so einen Spruch wie „From the river to the sea, Palestine will be free“ loslässt, der äußert sich antisemitisch. Wenn das israelische Regierungshandeln mit den Naziverbrechen gleichgesetzt wird und z. B. der Gazastreifen als großes Konzentrationslager bezeichnet wird, dann ist das auch antisemitisch, weil es Naziverbrechen relativiert und Täter und Opfer umkehrt. 

    PROFIL: Wie in sozialen Netzwerken Hass geschürt wird und Antisemitismus verbreitet wird, ist beängstigend. Was können wir dagegen tun? 

    Klein: Wir können niemandem das Handy wegnehmen, aber wir können aufklären und da sind auch die Schulen gefragt. Ich freue mich, wenn Schulen Angebote zum richtigen Umgang mit Social Media machen – da geht es nicht nur um Antisemitismus, sondern auch um Sexismus und vieles mehr. Zum einen sollte den Schülerinnen und Schülern erklärt werden, wie Social Media funktioniert, was Fake News sind und wie man Wahrheitsgehalte von Nachrichten überprüfen kann. 

    PROFIL: In einigen Bundesländern können Schülerinnen und Schüler am islamischen Religionsunterricht teilnehmen. Müsste das Judentum noch stärker berücksichtig werden? 

    Klein: Oftmals ist der Religionsunterricht das erste Mal, dass Schülerinnen und Schüler mit dem Judentum überhaupt in Kontakt kommen. Deshalb ist es wichtig, dass auch muslimische Schülerinnen und Schüler daran teilnehmen. Der Koran bezieht sich oft auf das Judentum. Zum Beispiel gibt es eine Marien-Sure, wo Maria als Jüdin verehrt wird. Es gibt viele judenfreundliche Passagen im Koran, die viel mehr berücksichtigt werden sollten. In Religionslehrbüchern werden noch immer viel zu viele Klischees verbreitet. Ich bin froh, dass wir mittlerweile eine Arbeitsgruppe in der KMK haben, mit der wir dazu Schulbuchverlage beraten.  

    PROFIL: Wie sieht das konkret aus? 

    Klein: Sehen Sie sich mal die Illustrationen zum Judentum an. Oftmals wird da ein orthodoxer Jude mit Schläfenlocken abgebildet. Aber wichtig ist auch zu zeigen, dass sich doch die meisten Juden kleiden wie Du und ich. 

    PROFIL: Für viele Menschen gibt es im Alltag null Berührungspunkte mit dem Judentum, aber der Islam ist inzwischen – vor allem in den Städten – allgegenwärtig.  

    Klein: Ja, das ist ein ganz wichtiger Faktor. Vorurteile und Klischees entstehen oftmals aus Unkenntnis. Wir brauchen Begegnung und Aufklärung. Es ist wichtig, dass wir das jüdische Leben in Deutschland stärker wahrnehmen. Der Zentralrat hat zum Beispiel das Programm „Meet a Jew“, wo junge Jüdinnen und Juden auch in Schulen kommen und über ihren Alltag erzählen, ins Leben gerufen. Davon brauchen wir noch viel mehr.  

    PROFIL: Dr. Klein, wir danken für dieses Gespräch! 

     

    Meet a Jew – Nice to meet Jew! 

    „Meet a Jew” ist ein Projekt des Zentralrats der Juden und wird gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Schulen können hier eine Begegnung mit einer Jüdin oder einem Juden anfragen und so informell und auf Augenhöhe in der Klasse ins Gespräch kommen.

    Mehr Infos: www.meetajew.de 

    Anne Frank Zentrum e.V.  

    Der deutsche Partner des Anne Frank Hauses in Amsterdam stellt umfangreiche Lernmaterialien ab Klasse 5 zur Verfügung sowie Material für pädagogische Fachkräfte. Außerdem bietet der Berliner Verein Fortbildungen und Weiterbildungen für Lehrkräfte zum Thema Antisemitismus an.

    Mehr Infos: www.annefrank.de/bildungsarbeit 

    Mideast Freedom Forum 

    Das Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) ist ein Zusammenschluss aus Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern, Publizistinnen, Publizisten und Mitgliedern jüdischer Verbände. Die Organisation setzt sich für eine dauerhafte Erinnerung an die Shoah in Deutschland ein und bietet Fortbildungen für Lehrkräfte und an Schulen an. 

    Mehr Infos: www.bildungsbaustein-israel.de/bildungsangebot/seminare-fuer-die-schule/  

     

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