Wissen und wissenschaftliches Denken in der gymnasialen Oberstufe 

    Ausschnitt aus der Festrede von Prof. Dr. Peter-André Alt zum 120-jährigen Bestehen des DPhV 

     (…) Was ist zu fordern? Im Grundsatz geht es um eine wissenschaftsbefähigende Bildung ab der Oberstufe. Was heißt das? Wir müssen reden über fachliche Schwerpunkte und intellektuelle Haltungen. Das erste meint die Ebene des Stoffs, die Vermittlung von Inhalten und Fakten. Das zweite bezieht sich auf die Art und Weise, wie in den einzelnen Fächern methodisch gearbeitet wird. Beide Bereiche besitzen besondere Bedeutung für den Studienerfolg; Faktenkenntnis ist nicht ersetzbar, sie schafft die Grundlagen für das Verstehen einer Disziplin, für spätere Fertigkeiten im beruflichen Kontext. Die intellektuelle Haltung aber ist ebenso entscheidend, denn sie ermöglicht es, den Erwerb von Wissen auf methodischer Basis zu sichern und nicht zuletzt kritische Urteile über Wissensinhalte zu fällen. Dazu möchte ich Genaueres sagen. 

    Prof. Dr. Peter-André Alt. Foto: DPhV/Marlene Gawrisch

    Wissenschaft ist mehr als Faktenerzeugung durch Beobachtung, Experiment, Hypothese, Regeldefinition. Schon Lessing formulierte 1777: “Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern, die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen aus.” Lessings Diktum verlagert den Schwerpunkt von der vermeintlichen Objektivität der Wahrheit zur subjektiven Suche nach ihr. Aus guten Gründen lässt sich bezweifeln, ob man überhaupt einen verbindlichen, kohärenten Wahrheitsbegriff zur Grundlage wissenschaftlicher Suche machen kann. Deren Ziel ist weniger die Gewinnung absoluter Gewissheiten als die Erschließung von Formen und Strukturen, in denen neue Sichtweisen freigesetzt werden. Wissenschaft bedeutet Reflexion, Urteil, Abwägung, oftmals auch Konstruktion, Modellbildung, offene Diskussion. Die Wissenschaft zielt aufs Ganze der objektiven Erkenntnis. Doch ihrer Form nach konstituiert sie einen Raum der dynamischen Denkbewegung, in dem nichts Festes, Permanentes existiert. Die wissenschaftliche ist jene Haltung, die davon ausgeht, dass alles, was ist, auch anders sein könnte – so hat es Niklas Luhmann formuliert. Das legitimiert keinen Eskapismus oder Utopismus, keine irrsinnigen Weltfluchten; schon gar nicht ständiges Bewohnen des Elfenbeinturms, intellektuelles Exil, abgewandte Forschung. Stattdessen geht es um die Fähigkeit, die Welt in Versionen zu denken, in immer wieder neuen Varianten und Alternativen. Wissenschaftliche Erkenntnis gelingt nur dort, wo das Bestehende in Experimenten und Deutungsmustern, in Proberechnungen und Hypothesen simuliert, hinterfragt und als anders vorstellbar gefasst wird. 

    Niklas Luhmann definierte vor mehr als 50 Jahren, die Wissenschaft habe “die spezifische Funktion, die Welt für die Gesellschaft offen zu halten. Für diese Funktion wird sie freigestellt.” Die Freiheit der Wissenschaft dient also einem einzigen Zweck, der selbst wieder zweckfrei ist: ihrer Aufgabe, uns die Welt durch Erweiterung ihrer Versionen offenzuhalten. Damit verbindet sich weder eine Programmierung des Wissens auf Transfer und Anwendungsbezüge, noch die Lizenz zum Verharren im Elfenbeinturm. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Denkoptionen, Varianten und Möglichkeiten, um eine Diversifizierung der Welt durch Forschung und Lehre. Besser, als Luhmann es tat, kann man die Autonomie der Wissenschaft und deren Beitrag für eine freie, in vielfältigen Optionen sich ausdifferenzierende Gesellschaft nicht beschreiben. 

    Wissenschaftliches Denken bedeutet Möglichkeitsdenken – ein Begriff, den ich mir vom österreichischen Schriftsteller Robert Musil ausleihe. In Möglichkeiten denkt, wer die Wirklichkeit als ‘Aufgabe’ und ‘Erfindung’ begreift, wie es in Musils Roman “Der Mann ohne Eigenschaften” heißt. Aufgabe ist die Wirklichkeit, weil sie uns stetig fordert, ohne genau umrissen zu sein; Erfindung, weil sie viel mehr von unserer Imagination in sich trägt, als wir vermuten mögen. Bei Musil bleibt der Begriff des Möglichkeitsdenkens eng mit der wissenschaftlichen Haltung verbunden. Denn nicht nur der Sinn für exakte Tatsachen, sondern auch die Vorstellungskraft der Phantasie, die Welt in Alternativen zu modellieren, bildet ein Element des forschenden Habitus. 

    Was heißt das für die schulische Bildung? Vor allem die Verpflichtung zur Kombination von Inhalten und Haltungen. Die stoffliche Wissensebene bleibt auch im 21. Jahrhundert wichtig, denn sie bildet, wie gesagt, die Basis für den Studienerfolg. Wer nur weiß, wo er etwas findet, ohne es selbst verarbeitet zu haben, weiß zu wenig. Aber auch das bloße Stoffwissen reicht nicht aus, wenn es um ein Studium geht. Die reine Topik – Wissen über Fundorte – und die reine Materialität – Wissen als Quantum – führen gleichermaßen in eine Sackgasse, zumindest nicht zur Studierfähigkeit. 

    Es ist offenkundig, dass die Beschäftigung mit disziplinären Inhalten eine urteilende und selektierende Leistung verlangen, die über die Erfordernisse eines reinen Rezeptionsprozesses hinausgehen. Bis zur Epoche der Renaissance war das akademische Studium auf die Lektüre einer sehr überschaubaren Zahl kanonischer Texte konzentriert, die wieder und wieder gelesen wurden. Weder die empirische Sammlung von Daten noch die Simulation von Naturvorgängen im Experiment spielten für die gelehrte Erkenntnis eine Rolle. Mit der beschleunigten Zunahme der Wissensbestände, wie sie sich am Beginn der Neuzeit vollzog, ging die Notwendigkeit einher, eine wachsende Vielzahl von Quellen und Informationen zu bewältigen. Die großen abendländischen Systementwürfe der europäischen Aufklärung von Descartes bis Kant lassen sich nicht zuletzt als Versuche definieren, diese Vielzahl durch eine kohärente Methode zu bewältigen und Wissen über Urteils- bzw. Reflexionsformen zu organisieren. In unserer postmodernen Gesellschaft, deren Wissensbestände sich alle zehn Jahre annähernd verdoppeln, geht es verstärkt auch darum, wie man unüberschaubarer Informationsmassen Herr wird. Die scientific community bringt heute 180.000 Zeitschriften hervor, in denen jährlich 2,2 Millionen Artikel erscheinen. Wikipedia versammelt in seiner englischsprachigen Version inzwischen 6,4 Millionen Artikel, das Vielfache eines traditionellen vierzigbändigen Lexikons in der Printversion. 

    Die vier Redner der Festveranstaltung: der ehemalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Prof. Dr. Peter-André Alt, Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien, DPhV-Vorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing und der stellvertretende DPhV-Vorsitzende Stefan Düll (v.r.n.l.) Foto: DPhV/Marlene Gawrisch

    Die Geschichte des Wissens ist durch die permanente Vermehrung von frei zugänglichen Wissensbeständen geprägt. Während für Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit überschaubare Wissenssektoren vorhanden waren, die zusätzlich durch Steuerungselemente wie Traditionsbildung, Topik und Autoritäten (oftmals im Kontext theologischer Normierungen) hierarchisiert und programmatisch verknappt wurden, wächst seit dem Zeitalter der Säkularisierung (Aufklärung, Rationalismus) die Menge des Wissens stetig an. Wenn Wissensverfügbarkeit heute durch Informationsflüsse hergestellt wird, ist der Begriff der Bildung notwendig anders als früher zu definieren. Nicht mehr die Sicherung des Zugangs zum Wissen, sondern die selbständige Hierarchisierung seiner Grundelemente stellt die vordringliche Aufgabe dar. In diesem Sinne geht es primär um die Fertigkeit zur Auswahl und zur begründeten Entscheidung. Es versteht sich, dass in einer Zeit, die Quellen nicht mehr verifiziert oder falsifiziert, Autorisierung anders läuft als noch in der Frühen Neuzeit. Autorisierung bedeutet nicht Rekurs auf die durch die antiken Philosophen, die Kirchenväter oder die scholastische Philosophie gesicherten Wahrheitsannahmen, sondern muss durch Vergleich erarbeitet werden. Das bleibt schwierig, denn die Vielzahl von Informationen, die medial bereitstehen, erschwert Orientierung, zumal sie gerade durch den Verzicht auf Autorisierung gekennzeichnet ist; man könnte hier förmlich von einem Hierarchieverbot des Internetwissens sprechen (dem analog die Abkehr vom Copyright, dem seit 300 Jahren geltenden Urheberrecht stattfindet). Wo Originalität und Wahrheit, auch unter dem Einfluss der Artificial Intelligence, als Leitkategorien ausfallen, muss jedoch nicht folgerichtig Beliebigkeit zum Prinzip von Forschung und Lehre werden. 

    Im Zeitalter digitaler Wissensorganisation ist Wissen anders zu definieren als früher; nicht mehr der Zugriff auf Wissensressourcen, die durch virtuelle Netze in unüberschaubarer Vielfalt bereitgestellt werden, bildet die wesentliche Herausforderung, sondern die Möglichkeit der Gliederung. Es geht um Instrumente der Ordnungsstiftung, die es erlauben, in der Flut des weltweit digital zugänglich gemachten Wissens Orientierung zu bieten, Abgrenzungen vorzunehmen und Hierarchien zu schaffen. Wer diese Flut bewältigen will, benötigt Auswahlfähigkeit und Urteilsvermögen. Genau das müssen die Gymnasien vermitteln, wenn sie neben dem Kompetenzerwerb einen vorhersehbaren Studienerfolg durch die Ausbildung autonomer intellektueller Haltungen ermöglichen sollen.

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