Warum ein Staatsexamen für Lehrkräfte vielleicht doch nicht absurd ist

    Von Susanne Lin-Klitzing

    „Manchmal fragt man sich, ob absurde Vorschläge überhaupt kommentiert werden sollten. Heute mache ich das mal.“ (Frank Ziegele, CHE) Das ist der Beginn von einem von vielen harschen Kommentaren auf meinen Vorschlag, das Lehramtsstudium mit einem Staatsexamensabschluss zu versehen, Praxisbezüge im Studium vorzusehen, deshalb aber nicht den Vorbereitungsdienst zu kürzen.

    Das Lehramtsstudium sollte an den Universitäten schulartdifferenziert erfolgen, weil sowohl das Alter der Schülerinnen und Schüler als auch die unterschiedlichen Schulabschlüsse, die gerade wieder in der Ländervereinbarung der KMK von 2020 bestätigt wurden, dies erfordern.

    Das Staatsexamen dient hierbei vorrangig der Funktion einer Einflussnahme der Länder auf die Ausbildung der späteren Landesbediensteten. Hierbei erfolgt die Durchführung der Abschlussprüfung durch das jeweilige Prüfungsamt, um so schulisch notwendige Inhalte und Standards zu sichern und durch die gemeinsamen Prüfungen auch einen kontinuierlichen, prüfungsrelevanten Austausch zwischen Lehrkräften und Hochschullehrenden zu ermöglichen.

    Hochschulen können nicht Aufgaben von Studienseminaren leisten

    Vor allem ist es eine Studienstruktur „sui generis“, aus einem Guss. Der Verzicht auf die sog. Polyvalenz, die uns einen Teil des aktuellen Lehrkräftemangels ja gerade beschert hat, erlaubt eine straffere Struktur des Studiums und damit auch dessen Verkürzung zum achtsemestrigen Studiengang plus Prüfungssemester.

    Dies schafft den dringend benötigten Raum für ein Referendariat in voller, 24-monatiger Länge, denn die Lehrenden an der Universität sind akademisch qualifiziert und sollten Schulbezug aufweisen, nicht jedoch genötigt werden, auch noch die Aufgaben der Studienseminare oder der Schulen zu übernehmen, denn das entspricht nicht ihrer universitären Expertise – weswegen Praxisphasen an der Universität die Erfahrungen im Referendariat nicht ersetzen können.

    Im zweijährigen Referendariat kann den Referendarinnen und Referendaren ein Schulwechsel nach dem ersten Schuljahr ermöglicht werden, um breitere Erfahrung auch an einer zweiten Schule sammeln zu können und der ausschließlich eigenverantwortliche Unterricht in das zweite Referendariatsjahr gelegt werden, um wirklich Zeit und Raum für die Professionsentwicklung zu geben.

    Fallbesprechungsgruppen bzw. Supervision sollten regulär (nicht nur) in die Zeit des Vorbereitungsdienstes integriert sein und Mentoring-Partner für die Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger in der anschließenden Berufseingangsphase zur Verfügung stehen.

    Bachelor-Lehrkräfte verschleiern Lehrkräftemangel

    Mit dem Staatsexamen wird zudem in einer Zeit des Lehrkräftemangels eher verhindert, dass Studierende nach dem Bachelor dem Lehramt den Rücken kehren, einen fachwissenschaftlichen Master machen oder direkt in die Industrie gehen, wo ihnen gerade im Bereich der Naturwissenschaften nicht selten höher dotierte, attraktive Positionen offen stehen.

    Und gerade mit Blick auf die Qualität des Unterrichts und die Bildung unserer Kinder kann es auch nicht in unserem Sinne sein, wenn Lehramtsstudierende im BA/MA-System ihr Studium nach dem Bachelor beenden, um schneller Geld in der Schule zu verdienen und damit „nebenbei“ als günstige Arbeitskräfte dabei helfen, den durch politische Fehlsteuerungen herbeigeführten Lehrkräftemangel mehr zu verschleiern als qualitativ abzufedern. Denn der Einsatz solcher Lehrkräfte führt zu einem starken Qualitätsverlust in der Lehramtsausbildung und – so meine Hypothese – zu einer Qualitätsverminderung beim Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Beraten in der Schule – von den Folgen für den Einzelnen, der unzureichend vorbereitet dann im Schulalltag „überleben“ muss, einmal ganz zu schweigen.

    Und noch etwas spricht m.E. dafür, die Rückkehr zum Staatsexamen ernsthaft zu erwägen. Die Abbruchquoten in den Bachelor/Master-Studiengängen sind hoch – zu hoch. Die Gründe für Studienabbrüche sind dabei natürlich vielfältig: Die Abbruchquote ist in den ersten Fachsemestern deutlich am höchsten. In schulartundifferenzierten Studiengängen können etliche Studierende den Anforderungen auf einem fachlich sehr hohem Niveau nicht standhalten. Das Staatsexamen, in modern modularisierter Form, wie es das ja u.a. in Hessen die ganze Zeit schon gibt, als regulären Abschluss zu fordern, heißt zudem nicht, Studierende, die nicht Lehrkraft werden wollen oder können, darin zu halten (vgl. u.a. Torben Bennick in Bildung.Table).

    Absolventen mit Staatsexamen werden auch von der Wirtschaft eingestellt

    Das Staatsexamen hat für die Studierenden nicht zur Folge, sich von anderen Studienabschlüssen abzukapseln, sondern – im bestgestalteten Sinne, hier durchaus mit „Nachhilfe“ für die auszubildenden Universitäten – eine durchgängige berufliche Orientierung. Zudem werden selbstverständlich Absolventen mit Staatsexamen auch von der Wirtschaft eingestellt. Hierzu liegen bisher leider keine belastbaren Zahlen vor. Aus der letzten Welle des Lehrkräftemangels wissen wir aber, dass die von den Ministerien gestarteten Versuche, die in der Phase der Lehrkräftearbeitslosigkeit nicht eingestellten Lehrkräfte nun an die Schulen zu locken, kläglich gescheitert sind, weil diese Absolventen mit Staatsexamen „trotz“ ihres Staatsexamens, nun in anderen Berufen glücklich reüssiert haben.

    Die überwiegende Realität in den Bundesländern sieht zurzeit so aus: Die Mehrheit der Bundesländer hat seit der hochschulischen Bologna-Reform die Lehramtsstudiengänge nicht aus inhaltlichen Gründen auf Bachelor-Master-Studiengänge umgestellt. Sie erfolgte für die Lehramtsstudiengänge zusammen mit Magister- und Diplomstudiengängen undifferenziert im Zuge von Bologna ab 1999 unter Edelgard Bulmahn – spannenderweise damals primär für das Lehramt, andere Staatsexamensstudiengänge wie Medizin oder Jura blieben unangetastet.

    Damals hatten wir keinen Lehrkräftemangel, sondern im Gegenteil, den vielen qualifizierten Absolventinnen und Absolventen der Lehramtsstudiengängen wurden kaum Stellen im Schuldienst angeboten, orientiert an einer Lehrkräfteversorgungsberechnung von ca. 100 Prozent, die niemals ausreichen, um 100 Prozent Unterricht abzudecken und der Programmatik individueller Schülerförderung auch nur annährend folgen zu können.

    Um die Verantwortung für diese jungen Menschen abzugeben, hat die KMK damals u.a. die Idee „polyvalenter“ Studiengänge gern aufgenommen – damit können die Absolventinnen und Absolventen mit Staatsexamen auch außerhalb der Schule in den Beruf gehen, die Verantwortung für Lehrkräftearbeitslosigkeit ist delegiert. Die KMK wollte die Bundesländer mit einem KMK-Beschluss damals nötigen, dies bis 2010 genauso umzusetzen, ist jedoch mittlerweile eines Besseren belehrt worden und ermöglicht klugerweise wieder die gegenseitige Anerkennung beider Lehramtsabschlüsse (Bachelor-Master und Absolventen mit Staatsexamen).

    Den Preis für verlängerte Studienzeit zahlt das Referendariat

    Im Bachelor-Master-System nun haben wir eine strukturelle Verdoppelung der Abschlüsse. BA und MA haben jeweils ein Prüfungssemester, was einerseits zum Nachteil von inhaltlicher Vertiefung ist und andererseits zur grundsätzlichen Verlängerung des Studiums im Gegensatz zum Staatsexamen führt. Den Preis für die – durch sachfremde Ziele begründete – verlängerte Studienzeit zahlte in fast allen Bundesländern das Referendariat. Es wurde uneinheitlich gekürzt auf 21, 18, 17, 16 und in Brandenburg im BA-MA-Lehramtsstudiengang sogar auf 12 Monate, also um die Hälfte des ehemals 24-monatigen Vorbereitungsdienstes. Nur Bayern hielt an 24 Monaten Vorbereitungsdienst fest.

    Dafür zog eine theoretisch undifferenzierte „Praxis“-Forderung in alle Studiengänge ein, die mittlerweile in Forderungen nach einem dualen Lehramtsstudium kulminiert. In der Medizin oder im Ingenieurwesen würde niemand auf die Idee kommen, nach zwei Semestern erste Operationsversuche vorzunehmen oder die Verantwortung für Konstruktionspläne an Autobahnbrücken zu übernehmen – in beiden Fällen braucht man zunächst solides theoretisches Wissen und dann einen begleiteten Übergang in die Praxis.

    Naive Unterschätzung, was für Beruf einer Lehrkraft notwendig ist

    Die Idee, dass die – ihrem Wesen nach wissenschaftlich ausgerichteten – Universitäten in der verlängerten Studienzeit durch Bachelor/Master nun auch eine schulpraktische Ausbildung leisten könnten, die qualitativ mit dem Angebot von erfahrenen Schulpraktikern im Referendariat vergleichbar wäre, macht eine naive Unterschätzung offenbar, was für den Beruf der Lehrkraft u.a. an fachlicher und unterrichtspraktischer Expertise notwendig ist – und nötigt Lehrkräften in den Schulen „on the job“ die schulpraktische Ausbildung von Studierenden zu. Das ist eine für das Lehramtsstudium unangemessene, schlechte Praxis. Sie dient nicht der Professionalisierung der zukünftigen Lehrkräfte, überträgt den Bestandslehrkräfte zusätzliche Pflichten und führt strukturell zu weiterer Aufgabenüberlastung, aktuell bei bestehendem Lehrkräftemangel.

    Ein auf acht Semester mit einem Prüfungssemester angelegtes Staatsexamen plus zweijähriges Referendariat dagegen sorgt für eine klare Gliederung und ein kluges Aufeinander-Aufbauen von Theorie und Praxis und dafür, dass in beiden Phasen die jeweiligen Expertinnen und Experten unsere zukünftigen Lehrkräfte ausbilden.

    Das viel beschworene Phänomen des auch beim Staatsexamen eintretenden „Praxis-Schocks“ ist weder ein Staatsexamens- noch ein schulspezifisches Problem. Auch in zahlreichen anderen Berufen decken sich universitäre Theorie und berufliche Praxis nicht zu 100 Prozent. Kaum ein Berufstätiger wird behaupten wollen, nach dem Studium vollumfänglich auf das Berufsleben vorbereitet worden zu sein. Es gehört nun einmal schlicht zur Realität, dass das Spektrum der Aufgaben erst im täglichen Arbeitsalltag sichtbar wird. Warum sollte das bei Lehrkräften anders als bei anderen Berufen sein?

    Plädoyer für Neustart des Lehramtstudiums

    Mein Plädoyer für den Neustart eines Lehramtstudiums mit kürzeren schulartspezifisch differenzierten Staatsexamensabschlüssen, mit konzeptionell solide aufbereiteten und begleiteten Schulpraktika während des Studiums, für einen ungekürzten Vorbereitungsdienstes durch kompetente und weitergebildete Lehrkräfte an den Studienseminaren, einem mindestens die Berufseingangsphase durchziehenden Mentoring für angehende Lehrkräfte sowie selbstverständlicher, berufslanger professioneller Supervision für Lehrkräfte will eben nicht ein mangelhaftes System durch ein neues System in Mangelwirtschaft ersetzen, sondern Bildung und Ausbildung künftiger Lehrkräfte qualitativ hochwertiger im differenzierten Zusammenspiel von Theorie und Praxis gestalten.

    Dies ist die Langfassung eines Artikels über Absolventen mit Staatsexamen und den Neustart des Lehramtsstudiums, der zuerst auf Bildung.Table hier erschienen ist: https://table.media/bildung/standpunkt/standpunkt-lin-klitzing-das-lehramtsstudium-braucht-das-staatsexamen/

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