Demokratie in der Krise und die Folgen für das Bildungssystem

    von Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin & Prof. Dr. Klaus Zierer

    Selten in der jüngeren Geschichte der Menschheit gab es eine derartige Ballung von epochaltypischen Herausforderungen: Klima-Krise, Corona-Pandemie und nun der Ukraine-Krieg. Die Menschheit und die Politik verharrt im Krisenmodus. Alle Länder der Welt sind betroffen und in ihrer politischen Praxis herausgefordert.

    Eine derartige Flut an Problemen trifft auch die verschiedenen Staatsformen. In Diktaturen, wie in China oder Russland, wird anders mit Krisen umgegangen als in Demokratien, wie in der Schweiz oder in Deutschland – und so werden epochaltypische Herausforderungen auch zur Bewährungsprobe der politischen Systeme. Wie viel globale Kooperation über unterschiedliche Staatsformen hinweg ist erforderlich, um diese Menschheitskrisen zu bewältigen? Gegenwärtig kippt die Stimmung in Richtung De-Globalisierung, gerade im Austausch mit Diktaturen und Autokratien. Dies ist ein gefährlicher Trend, an dessen Ende sich die Welt womöglich wieder in zwei Blöcke teilt, deren Grenze mitten durch Europa verlaufen wird, erstarrt in einem neuen kalten Krieg, der jederzeit zu einem heißen Nuklearkrieg eskalieren kann.

    Die angesprochene Bewährungsprobe ist für politische Systeme doppeldeutig. So ist beispielsweise die Demokratie in der Krise gefordert, unter spannungsreichen Bedrohungen zu agieren, gleichzeitig kann sie selbst in die Krise geraten. An den drei genannten Problemen lässt sich das zeigen: Maßnahmen zur Eindämmung des CO2-Auststoßen gefährden in Gestalt von Preiserhöhungen und Einbußen an Komfort und Mobilität die Unterstützung durch die Bevölkerung. Während der Corona-Pandemie erstarkte eine Querdenker-Szene, die zunächst aus Skepsis und legitimer Kritik entstanden war, aber zunehmend anti-staatliche und anti-demokratische Bewegungen hervorbrachte. Auch der Ukraine-Krieg spaltet die Gesellschaft zusehends hinsichtlich der Fragen, welches Maß an Solidarität die Ukraine einfordern kann und ob Waffenlieferungen sinnvoll sind.

    Bewegt man sich in den verschiedenen Lagern, so hört man nicht selten: Mit Demokratie hat die Gegenposition nichts zu tun. Gegenteilige Meinungen werden folglich als Angriff auf die Demokratie gewertet.

    Dieses Phänomen der gegenseitigen Diffamierung bekommt fast alltäglich in Talkshows eine Bühne. Als Zuschauer stellt man sich dann die Frage: Ist das Demokratie? Tatsächlich ist ein Missverständnis weit verbreitet: Viele meinen, Demokratie sei schon dann realisiert, wenn in gewissen Abständen gewählt wird und die Wahlen allgemein, geheim und frei sind. Das ist ein gefährlicher Irrtum.

    Der Begriff der Demokratie ist bis heute schillernd. Dies hängt unter an derem damit zusammen, dass er trotz aller Kritik positiv besetzt ist und daher innerhalb eines breiten Spektrums politischer Praktiken in Anspruch genommen wird. So haben sich die kommunistischen Staaten im sowjetischen Einflussgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg als »Volksdemokratien« definiert. Selbst das Projekt des Abbaus demokratischer Rechte in Ungarn trägt den Titel »illiberale Demokratie«. Um diese Beliebigkeit der Begriffsverwendung abzuwenden, hat sich im angelsächsischen Diskurs der nicht unproblematische Ausdruck »liberale Demokratie« eingebürgert.

    Charakteristisch für eine Demokratie im engeren Sinn ist die Garantie der individuellen Rechte und der institutionalisierten Solidarität in Form sozialstaatlicher Vorkehrungen.

    In diesem Verständnis beruht Demokratie auf einem einzigen Prinzip, nämlich dem der kollektiven Selbstbestimmung unter den anthropologischen Prämissen der Freiheit und Gleichheit. Sie meint im Kern, dass die jeweilige Ordnung für alle Bürgerinnen und Bürger zustimmungsfähig ist. Nur wenn die Bedingungen des wechselseitigen Respektes als Gleiche und Freie realisiert sind, entfaltet sich aus dem Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung eine demokratische Ordnung. Die Garantie indvidueller Rechte und Freiheiten ist also nicht eine Einschränkung der Demokratie, sondern unverzichtbarer, essenzieller, ja konstitutiver Teil jeder demokratischen Ordnung.

    Demokratie ist demgemäß eine politische Ordnung, der alle zustimmen können. Voraussetzung dafür ist die prinzipielle Gleichheit und Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger. Konsens ist nicht das Ziel demokratischer Entscheidungsfindung selbst, vielmehr beruht die demokratische Entscheidungsfindung auf Regeln und Institutionen, die diese normative Ordnung zum Ausdruck bringen. Da es bezüglich der Regeln und Institutionen Dissense geben kann, verlagert sich der für eine Demokratie unverzichtbare Konsens im Einzelfall auf eine höhere Ebene, wie es für Verfassungskonflikte charakteristisch ist, die beispielsweise durch eine Entscheidung mit verfassungsändernder Mehrheit aufgelöst werden. Somit ist es nicht die Mehrheitsmeinung, wie meist angenommen wird, die für die Demokratie allein ausschlaggebend ist, sondern es ist dieser höhere Verfassungskonsens, der eine Demokratie trägt und in dem die Grundprinzipien der Freiheit und Gleichheit zum Ausdruck kommen.

    Die ethische Einsicht in die prinzipielle Freiheit und Gleichheit aller Menschen korrespondiert in der Demokratie mit einer Zivilkultur des gegenseitigen Respektes und der Anerkennung unabhängig von kulturellen, religiösen, herkunftsbezogenen oder lebensformgebundenen Zugehörigkeiten. Eine Gesellschaft, in der Menschen aufstehen, weil sich im Bus neben sie eine Person anderer Hautfarbe gesetzt hat, ist nicht demokratiefähig. Demokratie ist nicht lediglich eine Staatsform, sondern eine Lebensform. Wenn die zivilkulturellen Grundlagen der Demokratie erodieren, ist diese als Institutionengefüge bedroht.

    Die in der Krise steckende Demokratie kann und muss also auch aus den derzeitigen Krisen lernen. Das oberste Gebot dabei lautet: sie muss sich um die Demokratiefähigkeit der Menschen kümmern. Das schließt beispielsweise eine Streitkultur ein, die im abendlichen Fernsehen vielfach vermisst wird. Gleichzeitig impliziert dies aber auch eine kritisch-konstruktive Haltung zu Medien im Allgemeinen, die allein durch die Auswahl der Themen, der Akteure, der Sendezeit usw. einem Bias unterliegen. Es wäre naiv, diese Auswahl als zufällig oder unbedeutend abzutun. Das in diesem Zusammenhang schwindende Interesse an professionellem Journalismus ist aus demokratietheoretischer und bildungspraktischer Sicht ein Problem. Denn viele Menschen informieren sich heute nicht über die Tagespresse, sondern lieber in den sozialen Medien, die aufgrund von Big Data besonders anfällig für eine Blasenbildung und eine Verrohung sind. Für eine Debattenkultur ist dies abträglich, für eine Demokratie ein schlummernder Erosionsmechanismus.

    Mit diesen Überlegungen sind die Konsequenzen angesprochen, die aus bildungspraktischer Sicht notwendig sind, hier konkret an drei Punkten für das Schulsystem erläutert.

    Erstens bedarf es schulorganisatorischer Strukturen, die zu einer Demokratie passen. Eine Schule in einer Demokratie muss eine demokratische Schule sein. Diesen Gedanken hat John Dewey eindringlich formuliert und unter dem Begriff der »embryonic society« entfaltet. Schule muss Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie sichtbar machen, zu einem demokratischen Lebensraum werden. Kinder und Jugendliche müssen in der Schule erfahren und lernen, was Demokratie bedeutet, müssen gehört werden, sich äußern und mitgestalten können. Um an dieser Stelle keiner Utopie zu erliegen: Mitbestimmung ist von Selbstbestimmung zu unterscheiden. So wichtig und sinnvoll es ist, alle Mitglieder der Schule in Entscheidungen einzubeziehen, Mitbestimmung ist aus demokratietheoretischer Sicht als kollektive Selbstbestimmung zu verstehen und als solche muss sie die Freiheit und die Gleichheit aller achten.

    Sodann ist zweitens auf unterrichtlicher Ebene gefordert, aktuelle Themen aufzugreifen. Dass Kinder und Jugendliche immer noch auf der Straße mehr über Nachhaltigkeit lernen, ist angesichts der Tragweite dieses Themas ein Armutszeugnis. Aber wie können solche Probleme angesichts gut gefüllter Lehrpläne in der Schule berücksichtigt werden? Eine Lehrplanreform, die durch Streichung und Straffung von Lerninhalten Freiräume schafft und durch Neugewichtung ein humaneres Bildungsverständnis ermöglicht, ist längst überfällig. So können Zeiten und Räume geschaffen werden, um aktuelle Fragestellungen zu behandeln. Ein Epochenunterricht ist hierfür das Mittel der Wahl: Eine Woche lang wird im Wechsel zwischen disziplinären und interdisziplinären Perspektiven ein Schlüsselproblem bearbeitet, anschließend werden die gewonnen Erkenntnisse diskutiert und reflektiert. Ein solcher Zugang verspricht nicht nur ein Nachbeten, sondern allen voran ein Nachdenken, und wird damit zum Zentrum einer Demokratieerziehung.

    Und schließlich bieten sich drittens in diesem Epochenunterricht Dilemma-Diskussionen an. Sie sind eine der wenigen Unterrichtsmethoden, die umfassend wirken und hohe Effekte haben. Dabei geht es darin nicht nur um das Vertreten der eigenen Position, sondern auch um das Verstehen der anderen Meinung, ja sogar das Formulieren von Gegenargumenten. Damit wird ein Perspektivwechsel zum Unterrichtsprinzip, der grundlegend für eine Demokratie ist.

    Sicherlich: allein mit Bildung werden epochaltypische Herausforderungen nicht gelöst, aber ohne Bildung auch nicht. Bildung ist das bestimmende Moment einer Demokratie. Erodiert eine Demokratie, was angesichts globaler Probleme möglich und derzeit beobachtbar ist, so lässt sie sich nur mit Bildungsanstrengungen wieder retten.

    Die Autoren des Textes Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer haben im August 2023 zu diesem Thema das Buch „Demokratie in die Köpfe – Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet“ veröffentlicht. Es ist im Hirzel-Verlag erschienen und kostet 26,00 Euro.

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