Über Bildungs- und Sprachgrenzen hinweg: ein Auftrag mit hohem Gemeinschaftssinn

    von Rolf Knieling

    Am 6 Oktober 1903 wurde der Deutsche Philologenverband DPhV gegründet. 2023 ist aber auch ein Festjahr für die Deutsche Evangelische Oberschule Kairo, kurz DEO: Die Schule wurde von der deutschen evangelischen Gemeinde in Kairo vor 150 Jahren gegründet. Das Jubiläumsjahr mit etlichen Aktivitäten und Feierlichkeiten fand mit dem Festakt am 10. Juni seinen Höhepunkt. Der Leiter der DEO, OStD Dr. Christian Dern, ist Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch und evangelische Religion. So erstaunt die Wahl der einleitenden Worte anlässlich seiner Ansprache zum Festakt nicht:

    Urworte. Orphisch, erste Stanze – Dämon:

    Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

    Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

    Bist alsobald und fort und fort gediehen

    Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

    So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

    So sagten schon Sibyllen, so Propheten:

    Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

    Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

     

    Diese Geburtstagsgrüße von Johann Wolfgang von Goethe erfreuen jede Philologin und jeden Philologen. Dr. Dern bestätigte im Gespräch, dass das Niveau der Deutschgruppe in der Oberstufe, die er unterrichtet, auch für die deutschen Klassiker mehr als angemessen sei. Es macht mich als ehemaligen Lehrer für Englisch und Französisch an der DEO stolz zu erfahren, dass die Mehrsprachigkeit auf hohem Niveau weiterhin ein herausragendes Merkmal der DEO-Schülerinnen und Schüler bleibt. Ich habe in meiner Dienstzeit sehr viele der 135 anerkannten Deutschen Auslandsschulen in allen fünf Kontinenten als Beauftragter der KMK für die Abschlussprüfungen und als Schulinspektor kennen gelernt. Die DEO ist und bleibt eine besondere Institution, die den Begegnungscharakter in herausragender Weise lebt und allen Herausforderungen zum Trotz immer wieder meistert.

    Die Deutschen Schulen der Borromäerinnen in Ägypten sind Mädchenschulen. Sie wurden 1884 in Alexandria und 1904 in Kairo gegründet. Die Jungen hatten lange Jahre nur die DEO zur Auswahl. Der hervorragende Ruf und die Qualität der deutschen Schulen führte um die Jahrtausendwende zur Gründung weiterer Schulen in Ägypten. Allein die Kinder der Ehemaligen fanden nicht mehr ausreichend Platz an der DEO oder der DSB. Die Europa-Schule Kairo bietet ebenfalls das Abitur als höchsten Abschluss an. Die Deutsche Schule Beverley Hills (im gleichnamigen Vorort von Giseh!), die Deutsche Schule Hurghada und die Neue Deutsche Schule Alexandria bieten das Gemischtsprachige Internationale Baccalaureate (GIB) mit direktem Hochschulzugang in Deutschland an. All diese Schulen werden vom Auswärtigen Amt personell und finanziell gefördert. Insbesondere in der Oberstufe unterrichten Lehrkräfte mit erstem und zweitem Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien, die von den Bundesländern im dienstlichen Interesse dafür beurlaubt worden sind. Die Beauftragten der Kultusministerkonferenz (KMK) sichern die Qualität und weltweite Vergleichbarkeit der Abschlüsse.

    Ich durfte die DEO als junger Lehrer und „Auslandsdienstlehrkraft“ von 1989 bis 1995 kennenlernen und habe vom Begegnungscharakter der Schule enorm profitiert. Mein Denken und Handeln hat sich während der sechs Jahre an der DEO und in Ägypten durch die Interaktion mit meinen Schülerinnen und Schülerin und den Kolleginnen und Kollegen durchaus verändert und mir interkulturelles Verstehen erleichtert. Gleichzeitig freue ich mich über die Reaktionen der Ehemaligen der DEO, wenn ich sie nach nunmehr fast 30 Jahren treffe. Die Schule hat sich pädagogisch, strukturell und baulich im Sinne des Orientierungsrahmens Qualität für Deutsche Auslandsschulen entwickelt. Der nach meiner Zeit an der DEO eingeführte kooperative Religionsunterricht in der Oberstufe ist ein Musterbeispiel für Begegnung geworden: Als KMK-Beauftragter durfte ich mündliche Abiturprüfungen im Fach Religion erleben, die kooperativ von einer muslimischen und einer christlichen Religionslehrkraft abgenommen wurden, nachdem diese Lehrkräfte zwei Jahre lang gemeinsam den Religionsunterricht bestritten hatten. Dies ist keine Selbstverständlichkeit in diesem muslimisch geprägten Land und dem großen Engagement der DEO-Gemeinschaft zu verdanken.

    Die Worte des Schulleiters in seiner Ansprach beschreiben treffend, dass die DEO seit 150 Jahre mit dazu beigetragen hat, dass sich Menschen unterschiedlicher Kulturen besser verstehen und dass dies ein Auftrag auch für die Zukunft ist. Ich zitiere aus der Rede von Dr. Dern:

     

    Goethe spricht von nichts anderem als unserer DEO: „Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, … bist alsobald und fort und fort gediehen, nach dem Gesetz, wonach du angetreten.“ Was ist dieses Gesetz, wonach wir angetreten? Es ist das Konzept einer evangelischen Schule, in der sich Gemeinschaften sammeln, begegnen, um zu neuen Gemeinschaften zu werden, es ist eine eingefleischte Gemeinschaft: die Ehemaligen der DEO, eine starke Gemeinschaft, die um ihre Herkunft weiß und diese auch sehr wertachtet. „Und keine Zeit und keine Macht“ kann diese zerstückeln, diese „geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ Es ist aber auch ein Auftrag mit diesem hohen Gemeinschaftssinn verbunden: Lasst uns an dieser Schule auch weiterhin dieses Ideal leben, der geprägten Form, die lebend sich entwickelt hat, dieses Ideal anstreben, dass nicht die einzelnen Gruppierungen ihrer Lobbyarbeit nachgehen, sondern dass wir auch weiterhin den Gemeinschaftssinn an der DEO leben und erleben, als lebendige Gemeinschaft, die immer hungrig ist auf Neues, auf Neue, auf Menschen, die anders sind als man selbst und einem Lebensentwürfe zeigen, die einem noch fremd sind.

    Was steckt hier für eine Energie, […] die so vielen Ehemaligen – wie ich in zahllosen Gesprächen feststellen durfte – ein anderes Leben ermöglicht hat, eine Energie, die diese beiden Staaten, Ägypten und Deutschland, aufs Engste miteinander verbunden hat.

    Es hat sich gelohnt und wird sich auch in Zukunft lohnen, so dass die DEO eine von den vielen Schulen in der Welt sein kann, die eine gewaltige Übersetzungsarbeit leistet, um Menschen zusammenzubringen, über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg.

     

    Die DEO ist ein Paradebeispiel dafür, was die Deutschen Auslandsschulen weltweit im Sinne der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik leisten. Sie bereichert ägyptische Bildungsbiografien, wie auch die der deutschsprachigen Kinder und beeinflusst so ihre Lebenswege im Sinne der Zusammenarbeit Ägyptens mit Deutschland, Österreich, der Schweiz und Europa und des gegenseitigen Verständnisses.

    Ich zitiere die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, aus ihrem Beitrag zur Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Blickpunkt Schule des Hessischen Philologenverbandes (Ausgabe 3/23):

    Das Ziel gymnasialer Bildung ist die Persönlichkeitsentwicklung des Schülers und der Schülerin, vermittelt über das Fächerangebot des Gymnasiums und die pädagogische und fachliche Autorität der Gymnasiallehrkräfte. Dieser spezielle Bildungsauftrag umfasst auch und gerade musische und künstlerische Fächer für eine breite und vertiefte Allgemeinbildung sowie die anspruchsvolle Vermittlung von Wissenschaftspropädeutik und den Erwerb allgemeiner Studierfähigkeit, um beste Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche zu schaffen, sich zu entwickeln, studierfähig zu werden und ihre eigene und die gesellschaftliche Zukunft zu gestalten.

     

    Diese Ziele erfüllt die DEO in vielfältiger Weise. Dazu gratuliert der DEO ihr ehemaliger Lehrer und Beauftragter der KMK und wünscht der Deutschen Evangelischen Oberschule im Namen des Deutschen Philologenverbandes alles Gute zum Geburtstag:

    ل عام وأنتم  بخير

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