von Alexander König und Julia Mosbach
Hinführung (Alexander König)
Im November 2022 veröffentlichte eine eher IT-Insidern bekannte Tech-Firma mit dem Namen OpenAI eine Software, die wie kaum eine andere in kürzester Zeit Bekanntheit erlangen sollte. ChatGPT eroberte in Windeseile die Netzöffentlichkeit. Bereits im Januar hatte der Dienst die Messlatte von 100 Millionen Nutzerinnen und Nutzern hinter sich gelassen und wenige Wochen später entfachte ChatGPT in Deutschland eine Debatte. Während der Netzaktivist Markus Beckendahl eine nun deutlicher denn je hervortretende bildungspolitische Schieflage diagnostizierte,[1] rief die Journalistin Nadine Emmerich den „Tod der Hausaufgaben“ aus[2] und der Blogger Bob Blume legte dar, dass sich das Lernen grundlegend ändern werde.[3]
Was war geschehen? ChatGPT, ein Programm zur Generierung von Texten, hatte die Öffentlichkeit aufgerüttelt und Effekte erzeugt, die an die Diskussionen um die Einführung der Suchmaschine von Google (1997), das rasante Wachstum der Online-Enzyklopädie Wikipedia (2001) oder den Hype um das sogenannte Mitmachnetz des Web 2.0 erinnerten (2005). In allen Debatten ging es dabei unter anderem um die Angemessenheit von Informationsrecherchen, um die Authentizität der Ergebnisse, um die Stellung des Nutzers im Prozess der Informationsgewinnung, um Autorenschaft und schlussendlich um Wahrheit.
Ähnlich verhält es sich mit dem aktuellen ChatGPT-Diskurs. Auf der einen Seite scheint die technologische Innovation des Generative Pre-Trained Transformers die bisher selbstverständlichen Formen der (Wissens-) Arbeit, der Information und der Erkenntnis in Frage zu stellen. Auf der anderen Seite ist für Wissenschaftler klar, dass bereits die Anwendung des Begriffs „Künstliche Intelligenz“ in die Irre führt. Denn ChatGPT besitzt keine Intelligenz im eigentlichen Sinne, sondern ist ein Programm zur Erzeugung von Texten in natürlicher Sprache.[4]
Das Besondere an ChatGPT sind vielleicht die Interaktionsmöglichkeiten. Die Benutzeroberfläche präsentiert sich schlicht, mit einem durch Google bekannt gewordenen Eingabeschlitz. ChatGPT ist ein sogenannter Chatbot. Anfragen bzw. Befehle können in natürlicher Sprache eingeben werden (sogenannte „Prompts“); die Ausgabe bzw. Antwort erfolgt unmittelbar als Text in verständlichen Buchstaben, Worten und Sätzen. Die Interaktion mit ChatGPT entwickelt sich, das Programm antwortet dialoghaft. Obwohl diese Interaktionsmöglichkeiten sehr nah an eine menschliche Konversationssituation herankommen, handelt es sich bei ChatGPT um nicht mehr und nicht weniger als eine computergestützte Software. Sie ist in der Lage, auf Grundlage eines Sprachmodells und entsprechender Basisdaten aus riesigen Textmengen Muster zu identifizieren. Komplexe und vernetzt arbeitende Algorithmen (sogenannte „neuronale Netze“) und Verfahren des maschinellen Lernens analysieren die Anfrage, verarbeiten sie und generieren eine Ausgabe. Da ChatGPT das Ergebnis auf Grundlage von Wahrscheinlichkeiten von Zeichen-, Silben-, Wort- und Satzfolgen errechnet, bezeichnen Computerspezialisten derartige Systeme als „stochastische Papageien“.[5] Gibt es da überhaupt einen Nutzwert für Lehrkräfte (vgl. Abb. 1)?[6]
Möglichkeiten der KI-Unterstützung im komplexen Lehrkräftealltag (Alexander König)
Der Arbeitsalltag von Lehrkräften ist belastend und die organisatorischen Aufgaben vielfältig. Häufig gehen Lehrkräfte bis an ihre Grenzen. Die natürlichen Kapazitäten sind häufig bis an die Grenzen angespannt. Wie soll da eine „Künstliche Intelligenz“ helfen? Informationen an Eltern oder Erziehungsberechtigte müssen vorbereitet, Mails beantwortet, Unterricht vorbereitet und in individualisierten und adressatenbezogenen Lernsettings Arbeitsmaterialien erstellt bzw. gestaltet werden. Doch der skeptische Blick trügt, denn Textgeneratoren bieten – professionelle Nutzungskompetenzen vorausgesetzt – in den beschriebenen Fällen zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten für Lehrkräfte, die zu einer echten und spürbaren Entlastung führen können. Routineaufgaben, für die Lehrkräfte in der Regel gut 15 bis 20 Minuten benötigen, erledigen Textgeneratoren in Sekunden (vgl. Abb. 2.).[7]
Gleiches gilt für die Abfassung und Anpassung von Sachtexten in adressatengerechte Sprache und für die Erstellung von Vokabelhilfen im bilingualen oder mehrsprachigen Unterricht, auch Zusammenfassungen von im Netz vorfindlicher Videos generiert ChatGPT sehr schnell (vgl. Abb. 3).
Grundsätzlich bleibt allerdings zu beachten, dass die vom Textgenerator erstellten Texte lediglich Vorschlagscharakter haben. Einerseits sind Fehler oder sogenannte „Halluzinationen“, also gänzlich fabulierte Antworten, nicht auszuschließen. Die Antwort des Generators hängt nämlich wesentlich von der Datenbasis ab – und diese Datenbasis ist nicht mit „der Welt“ gleichzusetzen, sondern höchstens ein Bruchteil derselben.[8] Es bleibt insofern, auch wenn zukünftig Schülerinnen und Schüler mit diesen Systemen arbeiten, bei der Notwendigkeit kritisch-reflexiver Distanz. „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Dieser Sinnspruch der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach aus dem 19. Jahrhundert hat auch im 21. Jahrhundert – nicht trotz, sondern gerade aufgrund der neuen technologischen Möglichkeiten – weiterhin Bedeutung.
Möglichkeiten des individualisierten Lernens (Julia Mosbach)
Bevor im Anschluss die Herausforderungen, vor die uns diese Technologie stellt, beleuchtet und mögliche Reaktionen vorgestellt werden, sollen zuerst sinnvolle Einsatzmöglichkeiten aus Sicht der Schülerinnen und Schüler skizziert werden:
Im Sinne eines stärker individualisierten Lernens können sie ChatGPT als persönlichen Tutor verwenden, um sich komplexere Aufgabenstellungen erklären und Lösungswege „Schritt für Schritt“ aufzeigen zu lassen. Schwer verständliche Originaltexte kann ChatGPT vereinfachen und zur Überprüfung des Textverständnisses Aufgaben verschiedenster Art und auf verschiedenen Niveaustufen generieren und anhand der Ergebnisse eine meist differenzierte Rückmeldung geben.
Sein Potenzial entfaltet der Chatbot allerdings in seiner Interaktivität: In der Rolle historischer Personen oder literarischer Figuren kann ein lebendiger Austausch über deren Ideen oder Motive stattfinden, in der Rolle z.B. eines Kellners können Dialoge in der Fremdsprache geübt werden. Auch hier gibt der Chatbot auf Wunsch am Ende eine Rückmeldung zum Lernstand (vgl. Abb. 4). Genauso kann ChatGPT in Think-Pair-Share-Verfahren[9] nach dem Austausch der Lernenden untereinander weitere Anreize bieten. Auch hier bleibt eine kritische Prüfung der Aussagen des Chatbots unerlässlich, Fehler liefern dabei wertvolle Anlässe, die Funktionsweise derartiger Systeme und ihre Schwachstellen (Halluzinationen) zu thematisieren.
Geübte Lernende können ChatGPT ganz gezielt in verschiedenen Phasen des Schreibprozesses einsetzen, indem sie sich Gliederungen oder Textteile generieren lassen, sich ein Feedback einholen oder ihre Texte gezielt überarbeiten lassen.
Herausforderungen für den Unterricht und mögliche Reaktionen (Julia Mosbach)
Wie oben beschrieben, können Schülerinnen und Schüler mit ChatGPT ihr Schreiben und Lernen verbessern. Dazu müssen sie es aber wollen. Wollen sie es nicht, bieten derartige Systeme eine verführerische Gelegenheit, unliebsame Aufgaben gänzlich abzutreten. Das heißt für uns, dass wir uns in Lern- und Prüfungssituationen umstellen müssen, um Lernerfolg und Prüfungsgerechtigkeit weiterhin bestmöglich zu gewährleisten. In einer ersten Annährung könnte dies folgendermaßen aussehen:
Schülerinnen und Schüler empfinden Schreiben häufig als Gängelung und nicht als gewinnbringende Tätigkeit, vor allem, wenn sie das Gefühl haben, dass bestimmte Zusammenhänge bereits zigfach verschriftlicht wurden. Was liegt also näher, als ChatGPT zu bemühen? Diese Auffassung rührt auch daher, dass ihnen oft nicht bewusst ist, welches Potenzial Schreiben für ihr Lernen hat: Schreiben ist Mittel der Reflexion und Motor für Erkenntnisprozesse, ohne Schreiben lässt sich nicht denken, und die entstandenen Texte sind Zeugnisse dieser mentalen Prozesse. Diese Zusammenhänge gilt es viel stärker bewusstzumachen, die Notiz als Textsorte gewinnt hier an Bedeutung.
In einem zweiten Schritt müssen wir unserem Bildungs- und Erziehungsauftrag gerecht werden, das heißt, wir müssen sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche die Basiskompetenz Schreiben und das nötige Orientierungswissen weiterhin erwerben. Nur so sind sie in der Lage, die Ergebnisse des Chatbots einzuordnen und kompetent für das eigene Schreiben zu nutzen. Das bedeutet für uns, dass wir den Aufbau dieser Basiskompetenzen zunehmend in die Präsenz verlegen müssen. Im Sinne des Flipped-Classroom-Konzeptes[10] ist es möglich, die thematische Einarbeitung in die Hausaufgabe zu verlegen (und damit auch für die Nutzung von ChatGPT zu öffnen) und die Textproduktion im Unterricht durchführen zu lassen. Unter enger Begleitung durch Mitschüler/innen und die Lehrperson werden die Schreibaufträge beherrschbarer, Autonomie, Kompetenzerleben und soziale Eingebundenheit steigern die Motivation.[11]
Wenn es darum geht, Wissen darzustellen und zu überprüfen, bleibt festzuhalten, dass dies nicht immer ausschließlich textbasiert geschehen muss. Die KMK weist bereits in ihrer Ergänzung zum Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ auf „erweiterte Möglichkeiten zu kreativen und produktionsorientierten Aufgaben“ hin, die sich „durch das Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ ergeben (KMK 2021, S. 12). Eine Sammlung digitaler Lernprodukte für verschiedene Klassenstufen und Fächer findet sich online z.B. von der Stiftung Bildungspakt Bayern.[12]
In diesem Zusammenhang ist es auch möglich, mit den Aufgabenstellungen am eigenen Erleben der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen, z.B. an ihrer Region, Schule, ihrer eigenen Erfahrungen und Reflexionen oder auch an ihren Vorarbeiten innerhalb der Unterrichtsreihe. Auch dann sind die Aufgaben (noch) nicht einfach von ChatGPT zu lösen. Auch Projektarbeit in Form von Umfragen, Versuchen, Exkursionen, Diskussionen etc. kann in die Lern- und Leistungsaufgaben eingebracht werden, sodass sich der Fokus stärker von Reproduktion auf Transfer verschieben dürfte.
Natürlich besteht auch die Möglichkeit, KI wie oben beschrieben in den Schreibprozess zu integrieren. So werden einerseits weniger komplexe Aufgaben, wie die Rechtschreibung, ausgelagert, andererseits werden durch das Generierenlassen und die Überprüfung und Integration fremder Textteile der Schreibkompetenz auch neue Dimensionen beigefügt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Verantwortung für einen solchen Text immer bei den Lernenden liegt. Um zu überprüfen, ob Lernende ihre Texte verantworten können, bieten sich kurze Reflexionsgespräche, vielleicht nur über einen Zusammenhang, an. Das stärkere Einbeziehen von Reflexionsleistungen bei der Bewertung entspricht ebenfalls den Empfehlungen der KMK (vgl. KMK 2021, S. 14).
Mit dem Ziel, ChatGPT in den Schreibprozess zu integrieren, rücken, wie angedeutet, auch kritisches Denken und Reflexionskompetenz in den Fokus. Auch hier wird es darauf ankommen, mit dem nötigen Orientierungswissen „Fakten, Prozesse, Entwicklungen einerseits einzuordnen und zu verknüpfen und andererseits zu bewerten und dazu Stellung zu nehmen.“ (KMK 2016, S. 8). So kann ChatGPT auch als Werkzeug zum Erlernen dieser Schlüsselkompetenz genutzt werden.
Quellenangaben:
[1] Beckedahl, M. (26.012023): Bildung, wir haben ein Problem. In: netzpolitk.org. https://netzpolitik.org/2023/irgendwas-mit-internet-bildung-wir-haben-ein-problem/.
[2] Emmerich, N. (25.01.2023): „Hausaufgaben sind tot“. https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hausaufgaben-sind-tot (Abruf 176.2.2023).
[3] Blume, B. (20.01.2023): ChatGPT: Das Ende vom Lernen wie wir es kennen. Das Deutsche Schulportal. https://deutsches-schulportal.de/kolumnen/chatgpt-das-ende-vom-lernen-wie-wir-es-kennen/ (Abruf 31.1.2023).
[4] Insofern ist auch die Anwendung des Begriffs der „Kreativität“ problematisch. Kaeser, E. (26.12.2022): Chat GPT: Der Roboter schreibt nicht, er schwafelt. Neun Missverständnisse um die Künstliche Intelligenz. In: Neue Züricher Zeitung. https://www.nzz.ch/technologie/chat-gpt-der-roboter-schreibt-nicht-er-schwafelt-ld.1717513
[5] Bender, E. M./Gebru, T./McMillan-Major, A./Shmitchell, S. (2021): On the Dangers of Stochastic Parrots: Can Language Models Be Too Big? In: Proceedings of the 2021 ACM Conference on Fairness, Accountability, and Transparency. New York, NY, USA: Association for Computing Machinery. S. 610–623. (= FAccT ’21). https://dl.acm.org/doi/10.1145/3442188.3445922 (Abruf 16.5.2023).
[6] Obwohl Textgeneratoren eindeutige Potentiale für das Lehren und Lernen bieten, zeigt die von Olaf Steinacker im Auftrag des Philologenverbands Nordrhein-Westfalen durchgeführte „Umfrage zu ChatGPT & Co.“, dass die wenigsten Lehrkräfte derartige Werkzeuge aktiv und zielgerichtet für die Vorbereitung bzw. Durchführung von Unterricht nutzen (Stand Ende März 2023). https://phv-nrw.de/wp-content/uploads/2023/04/20230404_Umfrage_ChatGPT.pdf (Abruf 17.05.2023).
[7] Natürlich muss der Eingabebefehl formuliert werden. Hier kann eine Sammlung gängiger Befehle helfen, die Arbeit noch effizienter und effektiver zu gestalten. Es ist aber davon auszugehen, dass derartige Funktionalitäten in Kürze Eingang in Office-Anwendungen wie PowerPoint, Word etc. finden.
[8] Wolfangel, E.: ChatGPT: Das sprachgewaltige Plappermaul. https://www.spektrum.de/news/maschinelles-lernen-chatgpt-wird-immer-plappern/2090727 (Abruf 5.2.2023).
[9] Die erste Phase bildet eine individuelle Auseinandersetzung mit einer Thematik (Think), in der zweiten Phase findet ein Austausch mit einer Person statt (Pair), in der dritten Phase werden die Ergebnisse zum Austausch in der Gruppe zur Verfügung gestellt (Share).
[10] Laut dem Flipped-Classroom-Konzept werden klassische Unterrichtsarrangements umgekehrt: Die Aneignung von Wissen geschieht mittels verschiedener Zugänge zuhause, was einem stärker individualisierten und selbstorgansierten Lernen Rechnung trägt. Der Präsenzunterricht dient dann komplexeren Tätigkeiten, wie dem Problematisieren, Reflektieren, vertieften Üben etc.
[11] vgl. dazu: Spannagel, Christian: ChatGPT & Co. In der Hochschullehre. Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=aM6fZuH1cGw (Abruf 15.05.23).
[12] Stiftung Bildungspakt Bayern: Digitale Lernprodukte als Leistungsnachweise. Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Schulversuch ”Prüfungskultur innovativ”. Online verfügbar unter: https://www.bildungspakt-bayern.de/wordpress/wp-content/uploads/2022/02/SBB_Leitfaden_Digitale_Lernprodukte.pdf (Abruf 15.05.23).