PhV BW: Diskussion über G9 an Gymnasien im Land in einem „Bürgerforum“: Was beabsichtigt die Landesregierung damit?

    Philologenverband fragt sich anlässlich der überraschenden Diskussion über G9 an Gymnasien im Land in einem „Bürgerforum“: Was beabsichtigt die Landesregierung damit?

     

    Der Philologenverband Baden-Württemberg (PhV BW) ist erstaunt über die plötzlich gezeigte Offenheit der Landesregierung für eine Diskussion um G9 an allgemeinbildenden Gymnasien – aber: Ist das vielleicht ein Trojanisches Pferd? Was steckt hinter der Einrichtung eines „Bürgerforums“ mit 40 – 60 Menschen? Reichen die eindeutigen Umfrageergebnisse von vielen Tausenden von Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht aus? Will man ein anderes Votum konstruieren?

    Seit der Einführung des flächendeckenden achtjährigen Bildungsgangs am Gymnasium in Baden-Württemberg im Schuljahr 2003/04 gab es Kritik; daraufhin wurden wenige sog. „Modellgymnasien“ mit G9 seit 2012/13 genehmigt, um etwas Druck aus dem Kessel zu lassen. Doch in Sachen G8 ist auch danach nie wirklich Ruhe eingekehrt.

    Inzwischen sind alle westlichen Flächenbundesländer zum neunjährigen Bildungsgang am allgemeinbildenden Gymnasium zurückgekehrt – außer Baden-Württemberg. Repräsentative Umfragen (forsa, https://www.phv-bw.de/wp-content/uploads/2022/03/2022-03-PhV-forsa-Umfrage-Text.pdf) unter Eltern aller Schularten in Baden-Württemberg haben ergeben, dass sich 91 % der Eltern ein G9 oder die Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9 wünschen. Eindeutiger geht es nicht. Die Elterninitiative „G9 jetzt BW!“ (https://g9-jetzt-bw.de) kämpft mit viel Erfolg um Stimmen für den Volksantrag, der voraussichtlich den Landtag zwingen wird, sich mit dem Thema zu befassen, auch wenn Ministerpräsident Kretschmann und die GRÜNEN das G9 mehrheitlich ausdrücklich ablehnen.

    Wenn dabei von Seiten der Landesregierung – ablehnend – auch auf die Lehrerbedarfssituation hingewiesen wird, die besonders an Grundschulen schwierig ist, und argumentiert wird, dass man bei den Gymnasien viele neue Lehrerstellen binden würde, dann ist das nur die halbe Wahrheit: Verschwiegen wird dabei nämlich, dass – wie im G9-Volksantrag eindeutig berechnet und dargestellt – dieser Mehrbedarf erst in etwa 6-7 Jahren anfällt, aber jetzt der Bedarf durch die niedrigere Stundenzahl pro Woche im G9 sogar sinken würde! Für die später kommenden Jahre könnte man eine Kampagne zur Lehrkräftegewinnung anstoßen, die bis dahin die fertigen Lehrkräfte ergeben kann. Die Zeit für eine komplette Ausbildung ist vorhanden – man muss nur endlich im Ministerium rechtzeitig planen und das wollen – und auch über eine Legislaturperiode hinaus rechnen!

    Und jetzt wünscht Ministerpräsident Kretschmann sich ein „Bürgerforum“, ein vorgeblich unabhängiges Gremium von 40 – 60 zufällig ausgewählten Bürgern, um die Frage, die schon viele Tausende Menschen im Land diskutiert haben, neu zu diskutieren. Zum einen ist das kein in der Verfassung vorgesehenes Gremium, dagegen ist der Volksantrag der erste Schritt auf einem verbindlichen, verfassungsgemäßen Weg, ein Ziel zu erreichen. Bürger, die mehrheitlich wohl kaum Berührungspunkte mit der Materie haben, sollen „die Debatte versachlichen und auf breitere Füße stellen“. Danach sollen Expertinnen und Experten, Verbände und Betroffene ihre Expertise und Argumente vortragen – welche „Experten“ werden da ausgewählt?

    Der PhV BW fragt:

    • Wo ist bisher unsachlich debattiert worden?
    • Die Eltern, vertreten durch den Landeselternbeirat, haben ihre Meinung dazu schon abgegeben: https://www.leb-bw.de/infos-downloads/stellungnahmen/stellungnahmen-2022/750-erkl%C3%A4rung-des-landeselternbeirates-zur-frage-der-positionierung-zu-g8-g9-an-allgemeinbildenden-gymnasien-in-baden-w%C3%BCrttemberg/file
    • Es wurden zigtausende Unterschriften bei zwei Online-Petitionen für G9 gesammelt:
    https://www.openpetition.de/petition/online/wahlfreiheit-zwischen-g8-und-g9-in-bw-zulassen
    https://www.openpetition.de/petition/online/corona-aufholjahr-im-g9-modus-zur-rettung-der-bildungsqualitaet
    • Es ist sehr realistisch anzunehmen, dass die für einen Volksantrag nötigen Stimmen zum Stichtag erreicht werden. Will die Landesregierung dieses basisdemokratische Verfahren entwerten? Ausgerechnet die GRÜNEN?
    • Dient das Bürgerforum vielleicht einfach nur als eine Verwirrungs-, Verschleierungs- und vor allem Verzögerungstaktik der G9-Gegner? Er wolle G9 nicht, das sagt Ministerpräsident Kretschmann weiterhin. Sollen das auch noch ein paar Dutzend zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, die man in der Anhörung mit „ausgewählten Experten“ konfrontiert, bestätigen? Zudem sei das Ergebnis des Bürgerforums natürlich unverbindlich, die Entscheidungen träfen Landesregierung und Landtag.
    • Welche Wissenschaftler und Experten wird man dafür wohl auswählen?
    • Warum sollte das Votum von 40 bis 60 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die teils keinerlei Bezug, Erfahrung oder Wissen zum Thema haben, in irgendeiner Weise repräsentativer oder belastbarer sein als das des Volksantrags mit fast 40000 Unterschriften?

    Fragen über Fragen.

    Unsere Antwort: „Der PhV kennt die Probleme aus der täglichen Praxis bis ins Detail und stellt sich daher hinter die Forderungen der Initiative „G9 jetzt! BW“. Wir als Fachleute sagen: Die Landesregierung sollte den Gesetzentwurf des G9-Volksantrags rasch im Landtag als Gesetz verabschieden, damit den historischen G8-Fehler korrigieren und die Debatte dauerhaft befrieden, denn: Dort ist eine Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9 vorgesehen, so dass alle Wege offen sind“, so Martina Scherer und Karin Fetzner, die stellvertretenden Vorsitzenden des Philologenverbands Baden-Württemberg.

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    An den Gymnasien des Landes Baden-Württemberg werden knapp 300.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Der Philologenverband Baden-Württemberg e.V. (PhV BW) vertritt mit über 9.000 im Verband organisierten Mitgliedern die Interessen der Lehrerinnen und Lehrer an den 462 öffentlichen und privaten Gymnasien des Landes.
    Im gymnasialen Bereich hat der Philologenverband BW sowohl im Hauptpersonalrat beim Kultusministerium als auch in allen vier Bezirkspersonalräten bei den Regierungspräsidien die Mehrheit und setzt sich dort für die Interessen der ca. 26.500 Lehrkräfte an den Gymnasien des Landes ein.

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