KOMMENTAR: Prüfungsunkultur

    Michael Felten arbeitet nach langem Lehrerleben als freier Schulentwicklungsberater, er moderiert kollegiale Weiterbildungen und führt auch Einzelcoaching durch (www.eltern-lehrer-fragen.de). Letzte Veröffentlichung: „Unterricht ist Beziehungssache“ (Reclam 2020). Jetzt dort neu: „Schwierige Schüler. Wer sie versteht, kann ihnen helfen.“ Foto: Euler-Ott.

    von Michael Felten

    Ein Gespenst geht um in der Bildungslandschaft. Nein, nicht der Lehrermangel – das ist ja kein Gespenst, das ist die Katastrophe. Die Rede ist vielmehr vom Versuch, das schulische Prüfungswesen umzuwälzen – also Klassenarbeiten und Klausuren. Die bedeuten ja bekanntlich Stress – für Schüler während der Tests, für Lehrer danach, beim stundenlangen Korrigieren. Aber das alles könnte – so verspricht eine modische Debatte – entfallen, wenn man Prüfungen ganz anders organisierte.

    Da gibt es etwa einen Kreis von digital affinen Bildungsaktivisten, der kritisiert, in traditionellen Klassenarbeiten werde nur auswendig gelernter Schulstoff abgefragt, und die Schüler würden bei der Bewertung über einen Kamm geschoren. ‘Alternative‘ Prüfungen würden demgegenüber nicht nur fachliche Kompetenzen erheben, sondern auch den 4 K’s gelten, den derzeit gerne beschworenen ‘Lernzielen für das 21. Jahrhundert‘: Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken.

    Prüflinge sollten Testaufgaben also zum Beispiel nicht mehr alleine bearbeiten, sondern im Austausch, ja in Zusammenarbeit mit anderen, vielleicht gar ohne Aufsicht. Oder sie müssten Prüfungen nicht mehr gleichzeitig ablegen, sondern erst, wenn der Einzelne dazu bereit sei, womöglich gar einzeln, zu Hause; sie sollten vielleicht auch Hilfsmittel wie Lehrbuch oder Internet nutzen können – und Zwischentipps der Lehrkräfte wären ausdrücklich erwünscht.

    Wer jetzt ‚Prüfungsparadies‘ denkt, liegt gewiss nicht ganz falsch. Und nicht nur fauleren Schülern könnte das durchaus gefallen – es könnte sogar auf notorisch schwächere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen anziehend wirken. Denn Teamarbeit oder Spickzettel während des Tests, das verspricht doch im Handumdrehen bessere Noten – aber wohl kaum höhere Leistungsfähigkeit. Das tiefere Problem ist: Hier werden schlichtweg Lernen und Leisten verwechselt oder vermischt. Kooperation ist beim Erarbeiten äußerst sinnvoll – bewähren muss sich indes der Einzelne.

    Schule soll ja nicht nur Bildungsprozesse anregen und fördern, sondern auch Zugangsberechtigungen vergeben – zu weiteren Bildungswegen oder beruflicher Positionierung. Und deshalb stellen Prüfungen ab und zu Lernstand und Leistungsfähigkeit individuell fest. Die im Netz kursierenden Beispiele ‘alternativer‘ Prüfungen sind nun zwar schöne, oft hochwertige Projektaufgaben, weisen also durchaus Merkmale qualitätvoller Lernprozesse auf. Nur sind es eben keine Prüfungen.

    Was wirklich Not tut, ist nicht eine Verwässerung des Prüfungswesens, sondern verbesserte Unterrichtsqualität. Anders gesagt: All das, was die Apostel des neuen Prüfens vorschlagen, gehört in den Unterricht, auch die 4 K’s – Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Also ins Vorfeld von Prüfungen: abwechslungsreicher üben, präziser unterstützen, gegenseitige Hilfe anregen, auch Selbstbewertung ermöglichen, Probetests selbst erstellen lassen. Und ebenso nach dem Test: nicht nur Fehler anstreichen, sondern auch Fortschritte würdigen; sodann dafür sorgen, dass Schüler ihre Stofflücken wirklich schließen – und zuvor ‘Gescheiterten‘ ruhig eine zweite Chance geben.

    Prüfungen schaden keinem – wenn sie gut vorbereitet und ermutigend kommentiert werden. Klar, viele Schüler mögen sich durch Prüfungen belastet fühlen. Aber ist es nicht eine zentrale Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche, Probleme zu bewältigen, mit Schwierigkeiten fertig zu werden? Schule ist eben der erste Beruf im Leben, und es wäre ein Irrtum anzunehmen, erleichtertes Lernen liefere bessere Leistungen und höheres Wohlbefinden. Zudem wissen Praktiker: Spätestens ab der Pubertät strengen sich viele Schüler nur noch deshalb an, weil es Prüfungen gibt. Das nennt man extrinsische Motivation, und sie gilt nicht als Optimum – aber sie wirkt zumindest.

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