Saarland-Ministerin Streichert-Clivot: „Ein G9 auf Knopfdruck für alle kann ich mir nicht vorstellen” 

    Saarlands Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) 

    Ein G9 auf Knopfdruck für alle kann ich mir nicht vorstellen” 

    Von Karolina Pajdak 

    Saarbrücken/Berlin – Sie ist die Ministerin, die G9 im Saarland umsetzen soll. Im Interview mit PROFIL spricht Christine Streichert-Clivot (42, SPD) über ihren Weg zum Abitur in neun Jahren und erklärt, warum sie der Meinung ist, dass Schülerinnen und Schüler im Saarland entlastet werden müssten. 

     

     

     

     

     

     

    Saarlands Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot will Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I am Gymnasium “entlasten”. Der Philologenverband kritisiert weniger Unterricht! Credit: MBK/Holger Kiefer

    PROFIL: Ministerin Streichert-Clivot, denken Sie an Ihre eigene Schulzeit zurück: Was war ihr Lieblingsfach, welche Lehrkraft haben Sie am meisten geschätzt und warum? 

    Christine Streichert-Clivot: Eines meiner Lieblingsfächer war Mathematik. Logik und Nachvollziehbarkeit mochte ich und das ist auch heute noch so. Zu den schönsten und unvergesslichsten Erlebnissen meiner Schulzeit gehört auf jeden Fall auch mein erster Frankreich-Austausch. Dabei ist eine Freundschaft entstanden, die bis heute sehr wichtig für mich ist. Als Schülerin einer Gesamtschule haben insbesondere meine beiden Tutorinnen einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Sie waren immer für uns Schülerinnen und Schüler da, egal ob es um schulische Belange oder persönliche Probleme ging.  Und auch ein damals als besonders streng bekannter Lehrer bleibt mir positiv in Erinnerung. Kontakte gibt es bis heute. Diese Menschen haben mich gestärkt, gefördert und unterstützt. Dafür bin ich sehr dankbar, denn ohne sie hätte ich das Abitur als Erste in meiner Familie nicht so ohne weiteres erreichen können. 

    PROFIL: Das Saarland kehrt nun zurück zum neunjährigen Gymnasium. Wie sieht Ihr konkreter Zeitplan dafür aus? 

    Streichert-Clivot: Wir kehren nicht zurück, sondern führen das neunjährige Gymnasium neu ein. Mit dem alten G9 hat das wenig zu tun, weil wir die Oberstufe bereits modernisiert haben und jetzt die Sekundarstufe I komplett neu aufstellen – es wird andere pädagogische Schwerpunktsetzungen geben, mit Informatik ab Klassenstufe 7 ein neues Pflichtfach für alle Schülerinnen und Schüler und die Lehrpläne werden vollständig überarbeitet, entrümpelt und an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst. Vor den Sommerferien gab es dazu einen umfänglichen Beteiligungsprozess und ich war an vielen Gemeinschaftsschulen und Gymnasien unterwegs, um über die Erfahrungen mit und die Erwartungen an G9 zu sprechen. Jetzt steht der Rechtssetzungsprozess bevor. Zum Schuljahr 2023/24 ist dieser abgeschlossen und dann werden die Jahrgänge 5, 6 und 7 bereits diejenigen sein, die ihr Abitur am Gymnasium in neun Jahren machen. 

    PROFIL: Welche bildungspolitischen Ziele verfolgen Sie mit der Einführung des neunjährigen Gymnasiums? Welche bildungspolitischen Schwerpunkte wollen Sie setzen? 

    Streichert-Clivot: Oberste Ziele der Reform sind die zeitliche Entlastung der Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I am Gymnasium und die Modernisierung der Inhalte. Das Saarland ist ein Vereinsland, ehrenamtliches Engagement in Sport und Kultur hat für uns hohe Priorität. Gerade für ältere Schülerinnen und Schüler war das ab Klasse 7 am Gymnasium schwierig. Auch brauchen wir eine stärkere Diskussion darüber, dass junge Menschen teilweise länger in der Woche mit Schule und Lernen beschäftigt sind als eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer mit einer 40-Stunden-Woche. Das ist in zahlreichen Gesprächen mit Schülerinnen, Schülern und Eltern deutlich geworden. 

    PROFIL: Verstehe ich das richtig, die Schülerinnen und Schüler sollen also mehr Zeit fürs Vereinsleben haben und weniger für Deutsch und Mathematik? 

    Streichert-Clivot: Beides ist wichtig und muss in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Das Engagement beispielsweise im Verein hat ja nicht nur einen gesellschaftlichen Wert, sondern auch einen individuellen, weil es für viele ein wichtiger Ausgleich ist zur Arbeit in der und für die Schule. Das gilt ebenso für gemeinsame Zeit mit Freundinnen, Freunden und der Familie. Wir alle kennen das ja. Wer ausgeglichen und erholt ist, ist auch produktiver. Es geht gewissermaßen um bessere Arbeitsbedingungen für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Ich bin überzeugt davon, dass ausgeglichene und glückliche Schülerinnen und Schüler in der gleichen Zeit mehr und besser lernen können als gestresste und überlastete. Die reine Zahl der Unterrichtsstunden ist für den Bildungserfolg nicht entscheiden. 

    PROFIL: Welche Rolle spielen Digitalisierung, Globalisierung und Nachhaltigkeit im saarländischen Gymnasium der Zukunft? 

    Streichert-Clivot: Wir befinden uns im Saarland – und bundesweit – in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Diese Transformation bedeutet, dass wir die jetzige junge Generation noch stärker auf eine digital geprägte Arbeitswelt vorbereiten müssen. Der selbstbestimmte Umgang mit den digitalen Anforderungen der Lebens- und Arbeitswelt steht daher im Zentrum der Einführung des Faches Informatik. Ab dem Schuljahr 2023/24 werden alle jungen Menschen im Saarland ab Klasse 7 an Gemeinschaftsschulen und Gymnasien Informatikunterricht erhalten. Ebenso werden wir unser Basiscurriculum Medienbildung und informatische Bildung verbindlich in den Lehrplänen verankern. Nicht erst seit der Fridays-for-Future-Bewegung wissen wir, dass sich junge Menschen einbringen wollen, ihre Umwelt und Gesellschaft mitgestalten wollen. Daher wird auch unser Basiscurriculum Bildung für Nachhaltige Entwicklung verbindlichen Einzug finden in die Lehrpläne aller Fächer. Und durch eine Ausweitung des Faches Sozialkunde werden wir die politische Bildung stärken. Fächerübergreifende Inhalte und Lernangebote sollen das vernetzte Arbeiten am Gymnasium verbessern.  

    PROFIL: Mit den geplanten 178 Wochenstunden in Sek I belegt das Saarland einen der hinteren Plätze im Ländervergleich. Bayern beispielsweise investiert ein gutes Dutzend Stunden mehr. Wie wollen Sie diesen Nachteil im Saarland ausgleichen? 

    Streichert-Clivot: Das ist kein Nachteil, sondern entspricht dem großen Wunsch vieler Schülerinnen und Schüler, vieler Eltern und auch Lehrkräfte. Wir wollen ja eine Entlastung erreichen. Wir haben entschieden, dass von der Klasse 5 bis zur Klasse 10 Schülerinnen und Schüler insgesamt in der Woche über alle Jahrgänge 178 Stunden haben, das heißt in der Woche zwischen 28 und 32 Stunden. Das ist weitaus weniger als bisher bei G8. Gleichzeitig erlaubt uns die Einführung der neuen Klassenstufe 10, insgesamt mehr Unterrichtsstunden im Vergleich zu G8 haben – sie werden aber über die Klassenstufen entzerrt verteilt. Das ist erst einmal ein wichtiger Schritt. Die Zahl 185 stützt sich auf die Bundesländer, die G9 umgesetzt und dabei gesagt haben, dass sie ganz viel Unterrichtszeit einbringen wollen. Wir reden dabei ganz bewusst von einer zeitlichen Mehrbelastung mit Unterricht, freiwillige Arbeitsgemeinschaften oder Projekte etwa sind hier noch gar nicht eingerechnet – die kommen noch obendrauf.  

    PROFIL: Warum wollen Sie nur einige wenige Klassenstufen von den Vorteilen des neunjährigen Gymnasiums profitieren lassen? 

    Streichert-Clivot: Wir starten mit den aktuellen Jahrgangsstufen 5 und 6, weil wir damit Schnittstellenproblematiken bei der Einführung von Informatik vermeiden, die ja für das Schuljahr 2023/24 auf dem Plan steht. Hätten wir jetzt zum Beispiel auch die aktuellen Siebtklässlerinnen und –klässler dazu genommen, würden diese Schülerinnen und Schüler das erste Jahr des neu eingeführten Informatikunterrichts verpassen. So schaffen wir einen sauberen Übergang. Wir müssen bei dieser Reform viele Akteurinnen und Akteure mitnehmen. Die Reform wird nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die geänderten Gesetze und Verordnungen vor Ort von den Teams an den Schulen auch mit Leben gefüllt werden. Das erfordert ein Vorantreiben der inneren und äußeren Schulentwicklung. Das braucht Zeit. Ein G9 auf Knopfdruck für alle kann ich mir auch aus diesem Grund nicht vorstellen.  

    PROFIL: Welche Konsequenzen hat das neunjährige Gymnasium für die Lehrerbildung? 

    Streichert-Clivot: Bei unserer G9-Reform werden ja auch die Lehrpläne für die Sekundarstufe I überarbeitet. Die Schwerpunktsetzung auf Informatik, Medienbildung, Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Demokratiepädagogik erzeugt natürlich Fortbildungsbedarfe für unsere Lehrerinnen und Lehrer.  

    PROFIL: Wie viele Lehrkräfte fehlen an Gymnasien im Saarland? Wie wollen sie die freien Stellen besetzen? 

    Christine Streichert-Clivot: Wie auch in den vergangenen Jahren ist es uns gelungen, für das laufende Schuljahr alle verfügbaren Planstellen zu besetzen und den Unterricht insgesamt zu personalisieren. Klar ist aber auch, dass sich bundesweit ein Lehrkräftemangel abzeichnet, den wir zunehmend auch im Saarland spüren – auch wenn das Gymnasium als Schulform hier verhältnismäßig wenig betroffen ist. Die beste Antwort darauf sind attraktive Beschäftigungsangebote. Deshalb ist es wichtig, dass wir im saarländischen Landeshaushalt für das Jahr 2023 einen deutlichen Aufwuchs der Lehrkräfte-Planstellen angelegt haben. Glücklicherweise sind wir im Saarland in der Situation, dass wieder mehr Kinder und Jugendliche – auch in der Zukunft – unsere Schulen besuchen. Ein Beleg für eine gute Bildungs- und Familienpolitik im Land. 

    PROFIL: Die KMK ermöglicht es den Abiturientinnen und Abiturienten, durch sämtliche Basiskurse bspw. in Mathematik und Deutsch (Einbringung von 20% der Kurse unter 5 Punkten) in der Gymnasialen Oberstufe „durchzufallen“. Im Saarland ist dies nicht möglich, was der DPhV sehr begrüßt. Bleiben Sie dabei? 

    Streichert-Clivot: Ja! An der Gymnasialen Oberstufe werden wir keine Änderungen vornehmen. Die G9-Reform wird sich in der Sekundarstufe I vor allem mit einem zusätzlichen Schuljahr, einer neuen Stundentafel und neuen Lehrplänen abbilden. Eine Reform der GOS ist im Zuge der Einführung des neunjährigen Gymnasiums nicht geplant.  

    PROFIL: Der DPhV spricht sich dafür aus, dass in allen Bundesländern möglichst viele Oberstufenkurse in die Abiturwertung einbracht werden und plädiert für 36 – 40 statt bisher 32 – 40 Kurse. Im Saarland sind es bereits 40. Auch hier die Frage: Bleiben Sie dabei? 

    Christine Streichert-Clivot: Unsere Regelungen haben sich bewährt, also ja. Erst wenn mit der KMK eine Verständigung über eine stärkere Vereinheitlichung der Vereinbarungen zur gymnasialen Oberstufe getroffen ist, wird zu entscheiden sein, ob, und wenn ja, welche Anpassungen wir in unserer Verordnung vornehmen wollen.  

    PROFIL: Die KMK arbeitet am „Politischen Vorhaben Abitur“. Der DPhV spricht sich für zwei bis drei Leistungskurse mit mindestens vier, maximal fünf Stunden aus. Er empfiehlt fünfstündige Leistungskurse. Wofür stehen Sie? 

    Streichert-Clivot: Wir haben seit 1979 fünfstündige Leistungskurse. Zwei Leistungskurse gibt es seit Einführung der GOS-Verordnung im Jahr 2007. Auch hier kann ich nur sagen: Beides hat sich bewährt. Wie gesagt, ich bin überzeugt davon, dass wir die größten Qualitätsgewinne am Gymnasium mit der Einführung des Abiturs in neun Jahren und der Reform der Sekundarstufe 1 erreichen – und genau da haben wir angesetzt.  

      

     

     

     

     

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