Amoktat am Lloyd Gymnasium Bremerhaven: Vom Funktionieren im Notfall

    Anita Tobias unterrichtet Kunst und Deutsch am Lloyd Gymnasium Bremerhaven. Auch am 19. Mai war sie dort, als ein 21-jähriger Armbrustschütze in die Schule stürmte und Amok lief. In PROFIL schreibt sie darüber, Credit: Marlene Gawrisch

    Von Anita Tobias 

    Ich bin ein Mensch mit Urvertrauen und aufgewachsen mit einer ausgeprägt disziplinierenden Erziehung, die auf Gehorsam setzte und die vermittelte Gewissheit, dass andere Personen richtige Entscheidungen für mich treffen würden. Sicher können andere „DDR-Kinder“ dies für sich auch so bestätigen. Ich denke oft daran, was diese Art des Aufwachsens und der Persönlichkeitsbildung mir ermöglicht, aber auch erschwert hat. Am 19.5. dieses Jahres habe ich mich in einer Situation wiedergefunden, in der mir diese früheren Prägungen womöglich sehr geholfen haben. Ich empfand keine Angst um mich selbst oder die mir anvertrauten Kinder; ich war durchaus verunsichert und nervös, aber ich bemühte mich, mir dies nicht anmerken zu lassen. Und ich vertraute einfach darauf, dass mir und uns allen zu gegebener Zeit immer jemand sagen würde, was zu tun sei und was geschähe. Ich ertrug eine quälende Zeit des Wartens in Ungewissheit, geriet aber darüber nicht in Verzweiflung. Und dass so viele Menschen um uns herum – meine Schulleitung, meine Kolleginnen und Kollegen, die Polizei, die Feuerwehr, die Lebensrettung – dieses Vertrauen in das Funktionieren auch in einer extremen Situation, die niemand erleben möchte, bestätigen, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. 

    Wenn ich im Folgenden in der nicht individualisierten man-Form schreibe, bedeutet dies nicht, ich hätte das Erlebte aus meinem Inneren verbannt. Ich verwende es, weil es mir ermöglicht, eine gewisse Distanz zum Geschehen zu wahren, und ich kann darin auch die Eindrücke einschließen, die ich im Gespräch mit meinen Kolleginnen und Kollegen aufgenommen habe. Das „man“ steht für mich und viele andere Menschen.  

     

    Man kann Hilfe leisten 

     

    Wahrscheinlich kennt fast jeder Mensch die Angst, in einer Notsituation gefordert zu sein, Hilfe leisten zu müssen – und dann zu befürchten, es nicht zu können. Die Amok-Situation am 19.5. in Bremerhaven hat gezeigt: Man kann es. Die meisten können es. Vielleicht klingt es eigenartig nüchtern, dies so festzustellen und als positiven Aspekt der Ausnahmesituation zu werten, aber es ist so: Man funktioniert. Dass wir Menschen keine Maschinen sind, merkt man hinterher, wenn die Situation vorbei ist.  

    Seit der schrecklichen Amok-Tat in Erfurt und spätestens seit denen von Emsdetten und Winnenden haben Schulen und Lehrkräfte eine gedankliche, theoretische Vorbereitung auf solch einen Fall durchlaufen. Die Schulen verfügen über Notfallpläne. Im Unterschied aber zum Feueralarm, dessen Evakuierungsablauf regelmäßig geübt wird und mit dessen realem Eintreten man sich gedanklich und emotional arrangiert, ist es beim Amok-Fall wie mit einem Film oder einer Fernsehnachricht: Man glaubt, das gibt es doch nur woanders, das wird doch hier nicht passieren, das wird doch nicht ausgerechnet die eigene Schule oder einen selbst treffen.  

     

    Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg 

     

    Wird dann der Alarm ausgelöst, hört man den Code-Satz dafür, wirkt selbst dies einen Moment lang surreal. Das schlagartig einsetzende Bewusstsein, dass dies wirklich ernst ist, zieht einem den Boden unter den Füßen weg – und löst dann ein Funktionieren aus: Man schließt eine Tür ab, man schließt Fenster, man ermahnt Schüler zur Ruhe, gegebenenfalls verbarrikadiert man sich. Und dann tritt ein eigenartiges Außerhalb-von Raum-und-Zeit-Befinden ein. Zeit dehnt oder komprimiert sich im Empfinden. Hunger, Durst, Toilettendrang werden ausgeblendet. Gleichzeitig versucht die Ratio, Erklärungen zu finden. Quälend ist es, wenn Informationen ausbleiben. Die harmlose Variante davon kennt man von Reisen: Ein Zug hält ungeplant auf freier Strecke, mit dem Auto fährt man an einen Stau heran. Was ist da los? Warum geht es nicht weiter? Wann geht es weiter? Was sollen wir jetzt tun? – Beschäftigung suchen, irgendetwas machen, sich ablenken. Aber wie lange? 

    Das Lloyd-Gymnasium in Bremerhaven hat zwei Gebäude, die sich knapp 200 Meter voneinander entfernt befinden. Die Amok-Tat fand im Gebäude der Oberstufe statt. Das Gebäude der Sek 1, in dem auch ich mich mit einer 7. Klasse befand, wurde binnen Minuten nach Auslösen des Alarms im anderen Haus abgeschlossen, alle Klassen und Lehrkräfte befanden sich in Sicherheit vor dem Amok-Schützen. Einen weiteren Täter, der zeitgleich in das Gebäude hätte eindringen können, gab es glücklicherweise nicht. Insbesondere die Schulleitung hat in beiden Gebäuden vorbildlich schnell agiert und reagiert – funktioniert.  

    Erklärungen, die der Verstand verlangt, werden im mehrstündigen Warten durch Fragen und Spekulationen ersetzt. Am schlimmsten jedoch ist die Welle an Text- und Bildnachrichten, die währenddessen von außen kommt. Die Nachrichten über digitale Medien sind schneller als der gesicherte, sachbezogene Informationsfluss zwischen zwei Gebäuden, die nur knapp 200 Meter voneinander entfernt sind. Noch während des Ereignisses, noch während des Wartens auf offizielle Mitteilungen per Durchsage oder itslearning-Nachricht, melden die Handys ein Wirrwarr an Fragen und Nachrichten: Schüsse in der Innenstadt, alles abgesperrt, Polizei, was ist da bei euch los, Krankenwagen, wo bist du gerade, geht es dir gut, da wurde jemand erschossen, es gibt Tote, und etwas später ein WhatsApp-Video, vielfach geteilt:  

    Ein junger Mann sitzt an einer Straßenecke, eine Armbrust neben sich, Passanten gehen verwundert vorbei, der Sitzende legt sich bäuchlings und verschränkt die Arme auf dem Rücken, die Polizei kommt und verhaftet ihn. – Man versucht in aller Eile, den Wahrheitsgehalt der Nachrichten einzuschätzen, man schreibt an Menschen, die besorgt sind, Lebenszeichen – und diese bis nach Berlin, Bayern oder gar ins Ausland. Parallel dazu beruhigt man aufgeregte Kinder und Jugendliche, vielleicht auch sich selbst, vielleicht auch Eltern, die sich in Panik auf den Weg zur Schule gemacht haben, man versachlicht die Situation, redet sich und anderen gut zu. Man sieht, wo es möglich ist, aus den Fenstern, versucht Sirenengeräusche zu lokalisieren, erklärt etwas, wofür man eigentlich selbst noch keine schlüssigen Erklärungen hat. Sprechen ist wichtig.  

     

    Zittern, Starre, Herumlaufen, Zusammensacken, Weinen 

     

    Die Grenzen des eigenen Körpers, die der Psyche, werden hinterher offenbar. Beginnen sich die Stresshormone im Blut, in der Muskulatur abzubauen, hat man verstandesmäßig dem nichts mehr entgegenzusetzen. Vielfältig sind die Empfindungen, die Reaktionen des Körpers, von Mensch zu Mensch ganz verschieden, aber alle normal, so schlimm man sie auch empfinden mag: Zittern, Starre, Herumlaufen, Zusammensacken, Weinen, Lachen, Wortlosigkeit, Drauflosplappern, Appetitlosigkeit, Heißhunger, Berührungen nicht ertragen, andere umarmen wollen. Später, wenn man nicht nur die Situation, sondern auch den Ort des Geschehens verlassen konnte, wenn man einen geschützten Rahmen erreicht hat, in dem man nicht mehr funktionieren muss, breitet sich eine tiefe, langanhaltende Erschöpfung aus. Müdigkeit, Kopfschmerzen, schwere Glieder zwingen zur Ruhe.  

    Es ist nicht leicht, dies zu akzeptieren. Wir sind es gewohnt, meistens zu funktionieren. Fühlt man sich mal nicht ganz wohl, geht man trotzdem zur Arbeit. Für fast alles gibt’s Pillen, Salben, Spritzen. In der Schule sind die Kinder, die betreut werden müssen, sind die Kollegen, die einen vertreten müssen, wenn man fehlt. Es ist schwer zu akzeptieren, dass es Situationen gibt, wo der Körper und die Seele auf das Pflichtgefühl des Verstandes pfeifen und die Begrenztheiten des Ichs, des Lebens, der Kräfte, der Handlungsoptionen unverhohlen aufzeigen.  

    Auch alle durch den Amok-Täter körperlich nicht verletzten Menschen haben nun Wunden zu heilen und das Ereignis als Teil ihres Lebens zu bewältigen. Wie lange dies dauert und auf welche Weise dies geschieht, hängt nicht nur von der seelischen Struktur eines Menschen ab, sondern maßgeblich auch davon, wie unmittelbar man von dem Ereignis betroffen war. Betroffenheit als Gefühl erleben auch alle mitfühlenden Menschen, die weit weg vom Geschehen waren. Eine Rückkehr in die Normalität des Schulalltags darf nicht verwechselt oder gleichgesetzt werden mit einem Sich-Zusammenreißen und Bagatellisieren des Erlebten. Um Normalität wieder herstellen, empfinden und zulassen zu können, muss man in vielerlei Hinsicht auch funktionieren – und wenn das nicht geht, dann geht es eben nicht. Da sprechen die Maschinen eine klare Sprache im Vergleich zu uns Menschen. Dass wir Menschen keine Maschinen sind, ist dennoch ein großes Glück, ein Geschenk. Vor allem dies – das Geschenk des Lebens – wird einem sehr bewusst in solch einer Situation. Letztlich geht es um Vertrauen: das Vertrauen in die eigene Kraft, das Vertrauen in andere Menschen und auch um das Vertrauen in einen funktionierenden Staat, der uns ein Leben und Arbeiten in Sicherheit ermöglicht – auch und gerade dann, wenn diese auf verstörende Weise in Frage gestellt wird.  

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