Berlin – Es war die erste Präsenztagung des Wissenschaftlichen Beirats in zwei Jahren! Am 7. Oktober kamen mehr als 20 hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Bildungsbereich zusammen, um zu diskutieren, welche Konsequenzen aus der Pandemie mithilfe des kritisch-konstruktiven Dialogs zwischen Wissenschaft und Deutschem Philologenverband gezogen werden sollen. Der offizielle Titel der Tagung lautete: „Schule nach Corona: Was soll bleiben? – Aufgaben für das Gymnasium“. Dabei war allen Anwesenden klar, dass diese Problemstellung an jenem Donnerstag in Berlin selbstverständlich nicht ausreichend diskutiert und bearbeitet werden kann.
Der Fokus der Veranstaltung lag daher darauf, über die zukünftige Entwicklung des Unterrichts an den Gymnasien zu diskutieren. „Durch die Pandemie haben wir an vielen Stellen ja einen ,neuen Blick’ auf unsere Schulen einnehmen können und müssen. Vieles, was uns selbstverständlich schien, war plötzlich unmöglich und manches, was uns unmöglich schien, war plötzlich machbar”, eröffnete Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des DPhV, die 14. Sitzung. Lin-Klitzing weiter: „Das wollen wir zum Anlass nehmen, drei wesentliche Aspekte für den Unterricht an Gymnasien im Lichte der Erfahrungen der letzten Monate noch einmal in den Blick zu nehmen. Erstens die Frage nach der Aufgabe und der Funktion von Schule; zweitens der Blick auf die vor der Pandemie installierten Maßnahmen der Qualitätssicherung und Steuerung und drittens die Frage danach, welche Entwicklung unsere Fächer zukünftig nehmen.”
In drei Blöcken standen sich jeweils zwei Referenten kontrovers gegenüberstanden. Verschiedene Perspektiven zum Thema „Schule nach Corona“ wurden dargestellt, in den anschließenden Diskussionen berücksichtigt und weiterentwickelt.
Der Deutsche Philologenverband hatte sich früh zum Konzept des „digital unterstützten Präsenzunterrichts“ bekannt. Dabei interessiert zukünftig in besonderer Weise, ob und wie das Lehren und Lernen im anspruchsvollen Fachunterricht durch digitale Technologien weiterentwickelt werden kann, um schulisch-unterrichtliche Ziele gegebenenfalls besser zu erreichen.
Auch die Auswahl der beiden Referenten für den ersten Block „Was soll aus den Corona-Erfahrungen bleiben für die zukünftige Aufgaben- und Funktionsbeschreibung von Schule”, war durch diese Thematik bestimmt. Unter dem Titel „Das, was die traditionellen Schulziele befördert, bleibt?!“ stellte Professor Jürgen Oelkers, der leider nicht persönlich teilnehmen konnte, seine Überlegungen textlich zur Verfügung. In der aktuellen Diskussion wird der „Präsenzunterricht“ – ebenso wie Schule als Ganzes – oft unzutreffend und rückständig dargestellt. Der real stattfindende Präsenzunterricht – ebenso wie die aktuelle Schulwirklichkeit – sei oft bereits sehr besser. Zentral war für Jürgen Oelkers die These, digitale Medien seien Lehrmittel und als solche nicht im Zentrum des pädagogischen Handelns. Professorin Anke Langner kontrastierte diese Darstellung dadurch, dass sie am Beispiel der Universitätsschule Dresden gerade die diagnostischen Möglichkeiten in den Blick nahm, die durch die Digitalisierung realisiert werden könnten.
Im zweiten Block: „Standards und Qualitätssicherung: Zukunft oder Ende? Haben sie ihr Ziel erreicht? Wo ist Umsteuerung vonnöten?“ stand die kritische Reflexion der vor 20 Jahren begonnenen Standardisierung im Mittelpunkt, die in Zeiten der Pandemie vor besondere Herausforderung gestellt war und möglicherweise vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten Monate angepasst werden muss. Auch hier wurden die Referentinnen von der Planung kontrovers gesetzt: Professorin Anne Sliwka setzte ihren Schwerpunkt auf die Betrachtung der Einzelschule und auf die Realisierung eines wirksamen Unterrichts dort.
Mit starker Perspektive auf internationale Betrachtungen propagierte sie daher ein persönlicheres „deeper learning“, das aufbauend auf fachliche Fähigkeiten und Fachunterricht durch Ko-Konstruktion, Engagement und authentische Prüfungen gekennzeichnet sei. Demgegenüber nahm Professorin Petra Stanat, die Chefin des IQB, eher das „Gesamtsystem“ Schule in den Blick. Sie betonte die Bedeutung einer höheren Vergleichbarkeit im System gerade mit Blick auf die Abschlüsse und den mit ihnen verbundenen Konsequenzen. Sie legte besonderen Wert darauf, die Prozesse der Standardisierung als Kontinuität zu begreifen und (gerade mit Blick auf manche Schwierigkeiten in der Vergangenheit) mit den Standards auch Unterstützungsmaßnahmen zu ihrer Umsetzung gleich mit zu bedenken.
Für den Deutschen Philologenverband als Interessenvertretung des Gymnasiums und der Gymnasiallehrkräfte ist Fachlichkeit das bestimmende Element gymnasialen Unterrichts – auch und gerade angesichts einer notwendig-anspruchsvollen fachlichen wie auch fachübergreifenden Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schlüsselproblemen und Unsicherheiten wie der Corona-Pandemie, Klimakrise, Digitalisierung etc.
Im dritten Block des wissenschaftlichen Beirats ging es dementsprechend um die Fächer, ihre Bedeutung und ihre zukünftige Entwicklung: Stephan Dorgerloh, ehemaliger Kultusminister Sachsen-Anhalts und jetziger Geschäftsführer der Beratungsfirma „Wider Sense“, die jährlich das „Nationale Bildungsforum“ organisiert, stellte die Bedeutung der Fachlichkeit angesichts von zu bearbeitenden gesellschaftlichen Schlüsselproblemen und nicht erst seit den Erfahrungen in der Corona-Krise zugunsten der sogenannten 21th-Century-skills ‚critical thinking‘, ‚creativity‘, ‚collaboration‘ und ‚communication‘ infrage. Seine Einlassungen wurden kontrastiert durch die Ausführungen von Professorin Kristina Reiss, Mathematikdidakterin und Chefin der letzten PISA-Auswertung, die zum Thema „Die Entwicklung der Fächer – Droht die ,Entfachlichung´?“ sprach. Sie stellte die Frage, ob das einzelne Fach Antworten auf zentrale Fragen der Gegenwart geben könne und kam zu dem Schluss, dass dies für ein Fach allein sicher nicht möglich wäre, das einzelne Fach aber helfen könne, die geeigneten Fragen zu formulieren und Komplexitäten zu reduzieren. In diesem Sinne habe das einzelne Fach in seiner Eingebundenheit in das Ganze unter Erhalt seiner fachlichen Spezifika eine ungebrochen große Bedeutung.
Am Ende der Sitzung wurde festgestellt: Selbstverständlich kann die Fragestellung „Schule nach Corona: Was soll bleiben? – Aufgaben für das Gymnasium“ noch nicht vollumfänglich und abschließend bearbeitet werden. Als konkrete Anregung kann für den wissenschaftspropädeutischen Unterricht in der Gymnasialen Oberstufe aufgegriffen werden, dass es im Interesse der Kooperation zwischen Gymnasium und Universität nun auch digital möglich ist, Experten aus der Wissenschaft zu konkreten Themen in den Unterricht digital „dazu zu schalten“. Aus den internationalen Erfahrungen wurde die Anregung transportiert, an den Universitäten im Rahmen der Lehrerbildung Studienangebote zu „Education Technologies“ zu integrieren.
Und sehr deutlich wurde insbesondere mit Blick auf die Umsetzung der vor 20 Jahren nach PISA begonnenen Kompetenzorientierung: eine Implementation neuer Steuerung schulischer Bildungsprozesse kann nicht gelingen, wenn Lehrkräfte zu „fremdbestimmten“ Umsetzern gemacht werden. Lehrkräfte als die entscheidenden schulischen Akteure müssen ernstgenommen und anders einbezogen werden – und zwar von Anfang an! Damit stand am Ende fest: Das jährliche Zusammentreffen der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Deutschen Philologenverband hat beiden Seiten den tieferen Einblick in die verschiedenen Perspektiven und wertvolle Denkanstöße für die zukünftige Arbeit in der Schule, in der Universität und in den Ministerien gegeben.
Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates tagen einmal jährlich zu bedeutsamen Themen im Bildungsbereich. Die Sitzungen zeichnen sich nicht nur durch die Vorträge der hochkarätigen Wissenschaftler aus, sondern auch durch konstruktive Diskussionen und Empfehlungen für Positionen des DPhV. Credit (alle): Sarah Böke