Forderungen des PhV BW an die künftige Landesregierung

    1. Was brauchen die Schüler?

    Durch die Pandemie mit den resultierenden
    · Schulschließungen,
    · langen Fern- und Wechselunterrichtsphasen,
    · massiven Ausfällen insbesondere in den Nebenfächern und
    · fehlenden praktischen Anteilen des Unterrichts in Sprachen, Naturwissenschaften, Sport, Musik und Kunst
    sind z.T. massive Defizite entstanden, die aufgearbeitet werden müssen.
    Daran trägt niemand eine Schuld, am wenigsten die Schülerinnen und Schüler, aber sie brauchen dringend Hilfe zum Aufholen des Versäumten. Deshalb müssen nach Abklärung der entstandenen Lücken passgenaue Angebote gemacht werden, die aber keinesfalls als „Bestrafung“ oder zusätzliche Belastung empfunden werden dürfen.
    30 Stunden „Lernbrücken“ in einem oder zwei Fächern wären angesichts von 360 bis 400 Stunden Fernlernen (allein von Dezember 2020 bis zum 18. April 2021) nur ein Feigenblatt.

    Nach den Ergebnissen der Lernstand-5-Untersuchung des IBBW im letzten Herbst ist davon auszugehen, dass ca. die Hälfte der im Fernunterricht verbrachten Zeit aufzuarbeiten ist.
    Da Bildung die größte „förderbare“ Ressource im Land Baden-Württemberg ist, ist jetzt entschlossenes Handeln gefordert:
    · Genügend zusätzliche und passgenaue Förderstunden in den kommenden zwei bis drei Schuljahren in allen Schularten, um Lernlücken nachhaltig zu beseitigen (siehe: https://www.phv-bw.de/phv-bw-zu-einem-corona-aufholjahr-fuer-schueler-am-allgemeinbildenden-gymnasium-durch-uebergang-auf-g9-ab-september-2021/ ).
    · Am allgemeinbildenden Gymnasium wahlweiser Übergang von G8 auf G9 als Regelform, um überhaupt die nötige Zeit für die Förderung zu schaffen (siehe: https://www.phv-bw.de/phv-bw-zu-einem-corona-aufholjahr-fuer-schueler-am-allgemeinbildenden-gymnasium-durch-uebergang-auf-g9-ab-september-2021/ und G9-Aufholjahr-Petition unter (http://www.openpetition.de/!aufholjahr) mit über 22.000 Unterschriften.
    · Endlich Installation von Raumluftreinigern in allen Schulräumen, um nachhaltig weitere Ausfälle durch Infektionen aller Art dauerhaft zu verringern. (Diese Maßnahme würde die Krankheitsausfälle der Schüler und Lehrkräfte auch zukünftig in Grippezeiten minimieren und damit die Zufriedenheit der Eltern und Schüler mit dem öffentlichen Schulsystem erhöhen!)
    · Deutliche Absenkung des Klassenteilers, damit der Fokus besser auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler gelegt werden kann.
    · Mehr Sozialarbeiter an die Schulen, um die in der Zeit des „Fernlernens“ entstandenen Probleme (zu Hause, unter den Klassenkameraden oder im sonstigen persönlichen Umfeld) so aufarbeiten und begleiten zu können, dass der Kopf wieder für das Lernen frei wird.

    2. Was brauchen die Lehrkräfte?

    Durch die Bewältigung von vorher nie dagewesenen Lern- und Lehrsituationen in der Pandemiezeit haben Lehrkräfte Außerordentliches geleistet:
    • Fern- und Wechselunterricht bewältigt,
    • Fernlernkinder zusätzlich zum Präsenzunterricht betreut,
    • Materialien umgestellt auf digitale Vermittlung,
    • Hygienemaßnahmen im Schulgebäude überwacht,
    • ohne eigene Pausen den ganzen Schultag durchgehalten,
    • trotzdem Prüfungen und Klassenarbeiten durchgeführt,
    • die eigenen digitalen Geräte zur Beschulung verwendet,
    • privat neue, für den Dienst notwendige Geräte dazugekauft,
    • Rückmeldungen an Schüler und Eltern gegeben,
    • Referendare in dieser Zeit betreut etc..

    Die Lehrkräfte haben unzählige Überstunden geleistet. Jetzt sollten die folgenden Maßnahmen getroffen werden:
    · Deutliche Senkung der wöchentlichen Unterrichtsverpflichtung, um den individuellen Bedürfnissen der Schüler gerecht werden zu können, ohne durch dauernde Überlastung die eigene Gesundheit zu ruinieren
    · Erhöhung der Anrechnungsstunden im Gymnasialbereich für die vielen Aufgaben außerhalb des reinen Unterrichtens, wie z. B. Betreuung der Sammlungen sowie Instandhaltung, Erweiterung und Verbesserung des IT-Netzwerks der Schule
    · Entlastung der Lehrkräfte von reinen Verwaltungsaufgaben durch Verwaltungshilfskräfte
    · Einsatz von zusätzlichen Sozialarbeitern und Schulpsychologen für die psychischen Probleme von Schülerinnen und Schülern, die durch die Isolationszeit und familiäre Schwierigkeiten vermehrt auftreten werden (Lehrkräfte agieren dann am erfolgreichsten, wenn sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können!)
    · Rückendeckung durch die übergeordnete Schulverwaltung bei Problemen durch herausfordernde Eltern wie etwa Maskenverweigerer und bei vermuteter Kindeswohlgefährdung oder Missbrauch
    · Mehreinstellung von jungen Lehrkräften auch über den momentanen Mindestbedarf hinaus zur nachhaltigen Sicherung der Unterrichtsversorgung und Vertretungen
    · Verlängerung des Referendariats von 18 auf 24 Monate, damit die jungen Lehrkräfte in ihrer Ausbildung das notwendige Rüstzeug bekommen können, um die gestiegenen Anforderungen gut und souverän zu erfüllen
    · Einstellung der neuen Lehrkräfte schon zum Schuljahresbeginn am 1. August und nicht erst zum ersten Schultag, um ein Abwandern von auf Kosten des Landes gut ausgebildeten Lehrkräften zu verhindern
    · Angemessene Anerkennung und Bezahlung von Mehrarbeit, wenn sie unumgänglich ist

    3. Was brauchen die Schulleitungen?

    Die Schulleiterinnen und Schulleiter mussten nun schon mehr als ein Jahr lang – immer extrem kurzfristig – den Schulunterricht neu planen, das Kollegium in die veränderten Regelungen einführen, das Schulgebäude auf Hygienestandards anpassen und mit Eltern mit sehr divergenten Vorstellungen von Unterricht unter Pandemiebedingungen kommunizieren – kurz gesagt: Schule ganz neu denken. Sie hatten praktisch keine Erholungszeit, keine Wochenenden, keine Ferien, weil sie immer schon vor Wiederbeginn des Unterrichts alles vorbereiten mussten. Manche Schulleitungen sind so überlastet, dass sie ans Aufgeben der Funktion denken, weil sie nicht bzw. nur noch durch Selbstausbeutung zu bewältigen ist. Deshalb brauchen sie:
    · Eine deutliche Erhöhung der Schulleitungszeit
    · Mehr Abteilungsleiter/innen, damit die Arbeit und Verantwortung sich auf mehr Schultern verteilen kann
    · Ausreichende Rückendeckung und Vertrauen von Seiten der Schulverwaltung, die hinter den Entscheidungen der Schulleiter steht und ihnen zutraut, die für ihre spezielle Schule passenden und richtigen Maßnahmen zu treffen
    · Hilfestellung von den zuständigen Gesundheitsämtern und dem B.A.D., um in der Pandemiezeit und auch danach den vorgeschriebenen Arbeits- und Gesundheitsschutz durchführen zu können

    4. Was braucht das Bildungssystem in Baden-Württemberg?

    Unser gegliedertes Schulsystem hat sich über lange Zeit bewährt und jahrzehntelang unserem Bundesland sehr gute Ergebnisse in nationalen und internationalen Vergleichen erbracht.
    Kinder sind verschieden in ihren Vorlieben, Talenten und Fähigkeiten; deshalb ist es wichtig, den passgenauen Bildungsweg wählen zu können.
    In Baden-Württemberg gilt: Kein Abschluss ohne Anschluss, sämtliche (!) Schulabschlüsse sind auf vielfältigen Wegen zu erreichen, niemand ist in einer Einbahnstraße der schulischen Laufbahn gefangen.
    Neueste Studien (Hartmut Esser und Julian Seuring „Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit“, online erschienen: 27. November 2020 (DOI: https://doi.org/10.1515/zfsoz-2020-0025)) zeigen, dass eine klare Differenzierung – aufbauend auf den kognitiven Fähigkeiten – die Leistungen in der Sekundarstufe deutlich positiv beeinflusst. Deshalb fordern wir:
    · Stärkung des differenzierten und aufeinander abgestimmten Schulsystems mit Grundschule, Haupt- und Werkrealschule, SBBZ, Realschule, Beruflichen Schulen und Gymnasium, so dass jedes Kind die Chance auf einen individuell zugeschnittenen Bildungsweg hat, der sich im Laufe der Jahre passgenau entwickeln kann. Eine Fokussierung auf „eine Schule für alle“ bringt durch Nivellierung und angesichts bewusst inhomogener Gruppen keine akzeptable Bildungsqualität.
    · Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung, die von den erfahrenen Lehrkräften der Grundschulen mit pädagogischer Verantwortung nach objektiven und nachvollziehbaren Kriterien erstellt wird. Wenn ein Kind an einer anderen als der empfohlenen Schulart angemeldet werden soll, ist eine dort durchzuführende Aufnahmeprüfung zwingend erforderlich.
    · An den allgemeinbildenden Gymnasien die Wahlmöglichkeit zwischen G8 und G9 als Regelform, auch damit durch ein Corona-Aufholjahr überhaupt erst die Möglichkeit für zusätzliche Stunden zur Förderung geschaffen wird. Solche Stunden können ins G8 schlicht zeitlich nicht mehr hineingepresst werden. Für begabte und motivierte Schülerinnen und Schüler soll weiterhin die Möglichkeit bestehen, in G8-„Schnellläuferklassen“ schneller (und ohne Nachholoption) zu lernen. Vgl. den äußerst erfolgreichen Modellversuch der Jahre 1999 bis 2004!
    · Orientierung an aktuellen wissenschaftlichen Studien (siehe oben) statt an ideologischen Wunschvorstellungen und Gleichmacherei, um die Ergebnisse in Baden-Württemberg wieder mindestens auf deutsches Spitzenniveau zu erhöhen. Unsere Firmen stehen in weltweitem Wettbewerb, insbesondere zunehmend mit China!

    5. Was brauchen die Schulträger?

    Die Ausstattung der Schulen liegt in der Hand der Kommunen, die bezüglich der Finanzen sehr unterschiedlich leistungsfähig sind. Die digitalen Möglichkeiten für den Unterricht sind dadurch im Land äußerst verschieden. Daher muss aus Gründen der Chancengleichheit vom Land eine Mindestausstattung der Schulen angeordnet werden, die sowohl die schulischen Endgeräte als auch die Datenübertragungswege auf einen akzeptablen Minimalstandard festlegt. Dass ein Streaming aus den Klassenräumen nach Hause nur mit massiv schnelleren Internetanschlüssen und Leitungen möglich ist, gehört auch in diese Kategorie.
    Ebenso muss klargestellt werden, dass die Wartung und Instandhaltung der digitalen Ausstattung durch geeignetes Personal Aufgabe des Schulträgers ist. Sollte ein Schulträger nicht dazu in der Lage sein, einen praktikabel nutzbaren Standard anzubieten, muss das Land schnellstmöglich Abhilfe schaffen. Deshalb fordern wir:
    · Schnelles Internet mit Mehrfachzugängen an allen Schulen
    · Es darf nicht vom Wohnort abhängen, wie gut oder schlecht die Ausstattung an der Schule ist
    · Leihgeräte für Schüler, die keine häuslichen Endgeräte besitzen – mit entsprechender technischer Hilfe
    · Dienstgeräte für alle Lehrkräfte, unabhängig von der Höhe des Deputats
    · Wartung und Pflege aller digitalen Komponenten durch geeignete Personen, die der Schulträger anstellt
    · Generell: alle Schulen müssen in einem guten baulichen Zustand gehalten werden, damit das Arbeiten und Lernen dort erfolgreich möglich ist und Schüler und Lehrkräfte sich wohl fühlen. Es darf nicht sein, dass in manche neuen Schularten sehr viel Geld gesteckt wird und die bewährten älteren Schulen im Verhältnis dazu buchstäblich im Regen stehen.

    6. Was brauchen die Schulen für eine pädagogisch sinnvolle digitale Weiterentwicklung?

    Oft wird inzwischen – bedingt durch die Pandemie mit der Notwendigkeit des Fernlernens – die Digitalisierung als das Allheilmittel für einen individualisierten Unterricht verkündet. Aber ein genauer Blick zeigt: Das Lernen in Präsenz und im Klassenverband ist viel mehr. Der Mensch als soziales Wesen braucht die Gruppe; eine Vereinzelung ist weder human noch fördert sie einen nachhaltigen Lernerfolg.
    Schulische Highlights wie Landschulheimaufenthalte, Studienfahrten, Exkursionen, Besuche von Theateraufführungen und Konzerten sowie sonstige außerschulische Veranstaltungen prägen die soziale Entwicklung stark und haben eine große pädagogische Wirksamkeit. Menschen lernen von Menschen, nicht von Maschinen.
    Unter Berücksichtigung dieser Prämisse kann die Digitalisierung einen eigenen Anteil zum Lernen liefern, der aber nur eine Methode unter vielen sein darf.
    Dabei ist ein Schwerpunkt darauf zu legen, dass die Kinder und Jugendlichen beim Arbeiten mit digitalen Hilfsmitteln nicht auf Produkte einzelner kommerzieller Anbieter (Marktführer) konditioniert werden, sondern die digitalen Werkzeuge exemplarisch kennenlernen und verwenden können, wobei schon aus rechtlichen Gründen der Daten- und Persönlichkeitsschutz strikt beachtet werden muss. Unsere Forderungen:
    · Zeit und Mittel für schulische Gruppenerlebnisse, die die Abhängigkeit von digitalen Geräten mit Suchtgefahr vermindern statt erhöhen
    · Lehrerinnen und Lehrer, die nicht nur Lernbegleiter sein wollen, sondern Vorbilder in vielerlei Hinsicht
    · Eine Unterrichtsplattform mit Open-Source-Programmen und ausreichendend stabilen Servern in Deutschland
    · Datensichere Kommunikationstools, die nicht über den US-amerikanischen Cloud-Act zu Datenabflüssen von europäischen Servern in die USA führen

    7. Appell an die künftige Landesregierung von Baden-Württemberg zu der Frage: Was brauchen unsere Schüler, Lehrer, Schulleiter und alle anderen Beteiligten?

    Wir bitten Sie, bei all Ihren Entscheidungen, die die Schulen betreffen, an die Worte John F. Kennedys zu denken: „Es gibt nur eins was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.“
    Gehen Sie deshalb von einer einfachen Überlegung aus:
    Was werden die Auswirkungen und Folgen Ihrer Entscheidungen für die Schülerinnen und Schüler sein? Stellen Sie sich dazu bitte immer folgende, einfache Fragen:
    · Wenn mein Kind oder mein Enkelkind genau an dieser Schule wäre – was würde ich mir dann wünschen, was für richtig und angemessen halten? Was brauchen die Schüler, Lehrkräfte und Schulen?
    · Würde ich mein Kind in genau diese Schule schicken wollen, die von dieser aktuellen Entscheidung betroffen ist?
    Bitte entscheiden Sie immer so, dass Sie Ihr Kind an jeder Schule gern anmelden würden!

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