PhV BW zum Sondierungsergebnis zwischen Bündnis 90/Die Grünen und CDU

    • Das in den grün-schwarzen Sondierungen angekündigte „Weiter wie bisher“ im Bildungsbereich führt zu weiterem Absinken der Bildungsqualität im Land

    • Philologenverband fordert: Bildung muss in der neuen Legislaturperiode zum zentralen Thema im Land werden

    • PhV-Vorsitzender Ralf Scholl: „Gute Bildung funktioniert nur mit Fördern und Fordern zugleich – das ist in Baden-Württemberg völlig aus dem Fokus geraten!“

    Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche zwischen Grünen und CDU (Sondierungspapier) stoßen beim Philologenverband Baden-Württemberg (PhV BW) auf herbe Kritik. „Das von beiden Parteien veröffentlichte Papier lässt für die Bildung nichts Gutes aus den Koalitionsverhandlungen erwarten“, kommentiert der PhV-Landesvorsitzende Ralf Scholl. „Eine qualitätsorientierte Bildungspolitik, die nüchtern die Nach-Corona-Lage analysiert und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aufnimmt, um Baden-Württemberg wieder an die Spitze zu führen, verlangt ein anderes Herangehen!“

    Der Bildung muss nach Ansicht des Philologenverbands in der neuen Legislaturperiode höchste Priorität im Land eingeräumt werden. „Kurzfristig muss dabei eine solide Aufarbeitung der Corona-Lücken im Vordergrund stehen, mittelfristig sollte Baden-Württemberg im Bundesvergleich wieder einen Spitzenplatz bei den Bildungsleistungen anpeilen, und das langfristige Ziel muss darin bestehen, mit den im Bildungsbereich führenden asiatischen Staaten wie Südkorea und China konkurrenzfähig zu werden“, erklärt Ralf Scholl.

    Auf besonderes Unverständnis beim Verband der Gymnasiallehrkräfte stößt die Entscheidung, die Corona-Lücken mit möglichst billigen Pflästerchen zuzudecken, statt sie solide aufzuarbeiten. „‚Besondere Zusatzangebote in einem ambitionierten Lernlückenprogramm‘ – das ist eine tolle Bezeichnung für die aus dem letzten Jahr bekannten Lernbrücken von 30 Stunden in einem einzigen Fach. Wie sollen so die Lücken aus mindestens 380 Stunden Fernunterricht in den Klassen 7-10 ausgeglichen werden?“, fragt Ralf Scholl und kommentiert: „Die Bezeichnung ‚Lernlückenprogramm‘ gibt hoffentlich nicht das Ziel vor! Die Lernlücken aufgrund einer Billiglösung werden jedenfalls alle derzeitigen Schülerinnen und Schüler ihr Leben lang als Hypothek mit sich schleppen – genau die Generation, die dann die massiven Corona-Schulden des Landes über ihre Steuern abbezahlen soll.“

    Der PhV hat vorgeschlagen, zur soliden Aufarbeitung der Corona-Lücken für alle gymnasialen Schüler der Jahrgänge 5 bis 10 mit Lernlücken ab September auf G9 umzustellen. Dass dies nicht einmal erwogen wird, zeige die Engstirnigkeit in der Bildungspolitik: ´Hauptsache, es kostet möglich nichts´. Das aber sei kein gutes Motto, wenn der wichtigste Rohstoff in Baden-Württemberg – die klugen Köpfe unserer Kinder – zielgerichtet gefördert werden soll. „Um einen Rohstoff erfolgreich zu fördern oder veredeln, muss man erst einmal entsprechend investieren“, so Ralf Scholl.
    Die verstärkten Nachfragen nach G9-Möglichkeiten bei der Anmeldung der neuen Fünftklässler wiesen ebenso auf den massiven Bedarf hin wie der Zulauf zur noch weitgehend unbekannten G9-Aufholjahr-Petition unter http://www.openpetition.de/!aufholjahr.
    „Ein sofortiger Übergang zu G9 für alle gymnasialen Schülerinnen und Schüler mit größeren Lernlücken würde problemlos die dringend benötigte zusätzliche Lernzeit bereitstellen“, erklärt der PhV-Landesvorsitzende.
    Die beabsichtigte Beibehaltung des achtjährigen Gymnasiums als Regelform trotz Pandemiefolgen und gegen den erklärten Willen breiter Teile der Eltern-, Schüler- und Lehrerschaft zeuge dagegen von keiner realistischen Sicht auf die derzeitige schulische Situation

    Problematisch betrachtet wird vom Philologenverband auch die Tatsache, dass es künftig Grundschulen ohne Noten geben soll. „Wie soll eine objektive Bewertung der Schülerleistungen ohne Noten aussehen?“, fragt Ralf Scholl. „Auf welcher Basis soll die Entscheidung für eine weiterführende Schule getroffen werden, wenn es an einer Grundschule überhaupt keine Noten gibt?“
    Nach Ansicht des Philologenverbands ist eine pädagogisch fundierte, verbindliche Grundschulempfehlung auf der Basis von Ziffernnoten das beste Instrument gegen eine falsche Schulwahl, die vor allem die betroffenen Kinder belastet. Und neuere Forschungsergebnisse bestätigen den größeren Schulerfolg aller Kinder bei verbindlichen Empfehlungen.

    Ablehnend steht der PhV BW auch dem geplanten weiteren Ausbau der Oberstufen an Gemeinschaftsschulen gegenüber, so wie es das Sondierungspapier darlegt. „Mit diesen Oberstufen wird eine teure Parallelstruktur geschaffen, die aufgrund der bereits vorhandenen vielfältigen Wege zum Abitur unnötig ist“, moniert Ralf Scholl.
    Er kritisiert zudem massiv die bisherige Genehmigungspraxis für gymnasiale Oberstufen an Gemeinschaftsschulen. „Die GMS-Oberstufen wurden eingerichtet, obwohl es keine ausreichenden Schülerzahlen dafür gab. Ermöglicht wurde dies durch eine zu hohe Prognose der Anmeldezahlen. Tatsächlich wurden nirgendwo mehr als 3/4 der vorhergesagten Anmeldungen erreicht: Außer in Konstanz liegen die Gemeinschaftsschul-Oberstufen durchgängig unter 60 Anmeldungen pro Jahr. Diese Praxis ist Geldverschwendung und muss umgehend beendet werden!“

    Im Bereich der Digitalisierung der Schulen müsse die Landesregierung der Ankündigung einer „echten Digitalisierungsoffensive“ jetzt schnell Taten folgen lassen.
    In diesem Zusammenhang wiederholt der Philologenverband seinen Appell für eine Nutzung von Open-Source-Lösungen für den digitalen Unterricht der allgemeinbildenden Schulen: „Der Daten- und Persönlichkeitsschutz von Schülern und Lehrkräften sowie die digitale Souveränität dürfen nicht durch den Ankauf datenschutzrechtlich bedenklicher, kommerzieller Produkte wie Microsoft 365 in die Tonne getreten werden“, betont der PhV-Landesvorsitzende.

    Vermisst wird vom Philologenverband im Sondierungspapier eine Senkung des Klassenteilers, um eine bessere individuelle Förderung der Schüler zu ermöglichen. „Neuere wissenschaftliche Studien zeigen ebenso eindrucksvoll den positiven Einfluss kleinerer Klassen auf den Lernerfolg der Schüler wie die Erfahrungen aus dem Wechselunterricht zu Corona-Zeiten“, erläutert Ralf Scholl. „Da die Klassengröße offensichtlich ein entscheidender Faktor für bessere Bildung ist, sollte hier unbedingt durch eine Reduzierung des Klassenteilers nachgesteuert werden“, argumentiert der PhV-Landesvorsitzende.

    „Das Sondierungspapier von Grünen und CDU lässt leider keine Verbesserung der Bildungsqualität in Baden-Württemberg erwarten. Stattdessen ist in manchen Punkten sogar ein Rückschritt gegenüber dem Status quo zu befürchten“, so das enttäuschte Fazit von Ralf Scholl.
    Er fordert die Bildungspolitiker der beiden Parteien auf, im Hinblick auf die Koalitionsverhandlungen in den Dialog mit Schulpraktikern – d.h. den Vertretern der Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern und Schüler – zu treten und deren Einschätzungen ernst zu nehmen.
    Zudem müssten aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien – und nicht praxisferne Wunschvorstellungen – die Basis für die bildungspolitischen Entscheidungen darstellen.
    „Wir hoffen und erwarten, dass im endgültigen Koalitionsvertrag für den Bildungsbereich noch deutliche Nachbesserungen gegenüber dem Sondierungspapier vorgenommen werden“, so der PhV-Landesvorsitzende abschließend zum Sondierungspapier.  

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