Das Lippenbekenntnis vom Kampf um jede Unterrichtsstunde

    Die Kultusminister begründen ihren Kampf für möglichst viel Präsenzunterricht in der Pandemie mit einem angeblichen Corona-Bildungsnotstand. Das ist scheinheilig. Denn es geht um den aktuellen Betreuungsnotstand. Der eigentliche Bildungsnotstand ist viel älter, und hätte die Bildungspolitik ihn wirklich beenden wollen – sie hätte genügend Chancen gehabt. Ein Gastbeitrag von Susanne Lin-Klitzing

     

    AN DIESEM DONNERSTAG wird die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Britta Ernst, offiziell in ihr Amt eingeführt. Die KMK wird dabei sich und ihre Reaktionen im Corona-Krisenjahr positiv würdigen, höchstens dosiert ein bisschen Selbstkritik üben und vor allem auf die vermeintlich so große Errungenschaft des von ihr abgeschlossenen Bildungsabkommens, die Ländervereinbarung, verweisen. Und in diesem Zusammenhang wird die Debatte um unsere Schulen in Zeiten des “Corona-Bildungsnotstandes” und um das “Recht auf Bildung jedes Kindes” neu aufleben. Doch diese Debatte ist scheinheilig. Denn die Debatte um den “Bildungsnotstand” in Corona-Zeiten ist in Wahrheit eine Debatte um den “Betreuungsnotstand” in Deutschland.

    Dass für die Minister und Ministerpräsidenten “jede Unterrichtsstunde zähle”, ist ein unglaubwürdiges Lippenbekenntnis. Das erkennt man an vielem. Den letzten “Bildungsnotstand” hatten wir nach der PISA-Krise ab dem Jahre 2000. Gemäß vieler Interpreten der deutschen PISA-Ergebnisse wurde die deutsche Schule, das deutsche Schulsystem durch sie zum “Hort der Bildungsungerechtigkeit”. Nun in Corona-Zeiten ist dieselbe deutsche Schule, dasselbe deutsche Schulsystem innerhalb weniger Wochen zum “Hort der Bildungsgerechtigkeit” geworden: Noch im März vergangenen Jahres (Reproduktions-)Stätte der Bildungsungerechtigkeit, wurde sie nach den Osterferien 2020 in der öffentlichen Wahrnehmung zur Stätte der Bildungsgerechtigkeit – ein Wunder.

    Die Kultusminister kämpfen im Interesse der Wirtschaftsminister und Ministerpräsidenten

    Dieses Wunder lässt sich allerdings wahrhaft leicht entmythologisieren: Es geht in Corona-Zeiten eben gar nicht in erster Linie um “Bildungsnotstand”, sondern es geht um einen “Betreuungsnotstand” der deutschen Gesellschaft in Corona-Homeoffice-Zeiten. Deshalb die plötzliche Funktionalisierung der Schule zum Hort der Bildungsgerechtigkeit und deshalb kämpfen die Kultusminister nun im Interesse der Wirtschaftsminister und der Ministerpräsidenten fortan um jede Unterrichtsstunde.

    Wir Lehrkräfte und der Deutsche Philologenverband kämpfen im Interesse der Bildung und der Zukunft unserer Schülerinnen und Schüler auch um jede Unterrichtsstunde. Allerdings schon länger und – bei allem Verständnis für die Nöte der Familien in Corona-Zeiten – vor allem ganz anders. Denn ja, wir haben einen “Bildungsnotstand”. Aber es ist ein altbekannter Bildungsnotstand, auf den der Deutsche Philologenverband schon lange hingewiesen hat: Das Bildungshaus Deutschlands ist leider nicht auf Fels, sondern auf Sand gebaut.

    Tatsächlich auf Fels und nicht auf Sand bauen hieße nämlich, für eine verlässliche Bildungsplanung und auskömmliche Bildungsfinanzierung zu sorgen, konkret für:

    • eine kontinuierlich ausreichende Lehrerversorgung (am besten eine 130-Prozent- Unterrichtsversorgung),
    • eine fachlich und pädagogisch ausreichende und auf hohem Niveau (für alle Länder!) standardisierte Nachqualifizierung von Quer- und Seiteneinsteigende für den Lehrerberuf,
    • Schulgebäude, die es von ihrer Architektur und ihrer Raumbelüftung her verdienen, Schule als Lebensraum genannt zu werden,
    • eine gute Versorgung mit zeitgemäßen Lehr- und Lernmitteln für alle Schülerinnen, Schüler und ihre Lehrkräfte,
    • eine gute Ausstattung aller Schulen,
    • eine Bildungsfinanzierung, die nicht abhängig ist von den unterschiedlichen Budgets und Schwerpunkten der Kommunen bzw. Schulträger und die nicht auf der Antragsstrecke zwischen Bund, Ländern und Kommunen hängen bleibt.

    Das alles ist nicht der Fall. Ja, und insofern haben wir tatsächlich einen “Bildungsnotstand” – allerdings einen jahrzehntealten, der nun Kinder, Eltern und Lehrkräfte in Corona-Zeiten einholt.

    Der gegenwärtige Alarmismus lenkt von den eigentlichen Ursachen des Bildungsnotstandes ab

    Nur aktuell den “Bildungsnotstand” über alle Schüler und insbesondere über den jetzigen Prüflingen auszurufen, ist Alarmismus, der fehl am Platze ist. Denn undifferenzierte “Notfallmaßnahmen” verdecken eher den tatsächlichen Bildungsplanungs- und Bildungsfinanzierungsnotstand, als dass sie ihn bei der Wurzel packten und beheben wollten.

    Die Chance, besagte Wurzel endlich anzupacken, wurde (fast?) vertan. In der KMK-Ländervereinbarung vom 15. Oktober 2020, den die Kultusminister anstelle eines Bildungsstaatsvertrags anschließend den Ministerpräsidenten zur Abzeichnung vorgelegt haben, wurde von den verantwortlichen Bildungspolitikern versäumt, die Bildungsplanung und Bildungsfinanzierung auf ein neues Fundament zu stellen. Die Baustelle Bildungsfinanzierung durch die Kommunen wurde nicht einmal angerührt. Und so machen auch die Ministerpräsidenten nun weiter zwar Kultuspolitik in der Corona-Krise, das aber nicht richtig – wenn diese, eine der wesentlichen Ursachen des Bildungsnotstands, durch Ländervereinbarung willentlich und wissentlich unbearbeitet bleibt. Eine Ländervereinbarung, die wie ihr Vorgänger ein halbes Jahrhundert lang ihre Gültigkeit behalten könnte.

    Dass verlässliche Bildungsplanung und auskömmliche Bildungsfinanzierung gerade so wie bisher nicht funktionieren, haben wir unter anderem am Beispiel der Kuddelmuddel-Finanzierung von Bund, Ländern und Kommunen bei der Digitalisierung gesehen: Selbst wenn Geld da zu sein scheint, fällt es offenbar schwer, es vernünftig und zeitangemessen auszugeben.

    Es ist und bleibt ein Skandal, dass die Bildungsfinanzierung der Schulen genauso bleibt, wie sie ist – und dass die Kultusministerkonferenz hier keinen Reformbedarf sieht. Die zukünftige Bildungsfinanzierung ist dort kein drängendes “politisches Vorhaben”, von denen immerhin acht neben der Ländervereinbarung definiert wurden. Gleichgültiger kann man diesem Grundproblem nicht gegenüberstehen als mit Artikel 21 der Ländervereinbarung: “Die Kommunen verantworten im Rahmen ihrer landesgesetzlichen Aufgaben insbesondere die bauliche Einrichtung, die Ausstattung und den Betrieb von Schulgebäuden, sie schaffen die notwendige lokale Bildungsinfrastruktur und wirken partnerschaftlich bei der Zusammenarbeit bei aller an Bildung Beteiligten vor Ort mit.”

    Die KMK zementiert damit, dass die Kommunen für die äußeren Schulangelegenheiten zuständig bleiben. Das führt auch in Zukunft zur seit Jahrzehnten bekannten bleibenden ungleichen Ausstattung der Schulen im selben Bundesland und in der ganzen Republik, eben weil die Kommune der Schulträger ist. Die Ministerpräsidenten der Länder täten gut daran, diese Ländervereinbarung nicht zu unterschreiben, bevor hier nicht zumindest Pilotprojekte als “politische Vorhaben” aufgenommen worden sind.

    Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hat Recht

    Das deutsche Bildungshaus wird ansonsten weiter auf Sand statt auf Fels gebaut sein. Das schafft keine gleichwertigen Lebensverhältnisse.

    Insofern trifft Bundesbildungsministerin Anja Karliczek durchaus ins Schwarze, wenn sie eine neue Debatte über die Bund-Länder-Zusammenarbeit in der Bildungspolitik fordert. Begonnen werden muss mit einem neuen Nachdenken über eine auskömmliche und für jede Schule und damit für jedes Kind gleichwertigere Bildungsfinanzierung. Eine politische Handlung der Ministerpräsidenten könnte hier den Auftakt setzen, zu der sie sich nicht einmal von der Bundesbildungsministerin anregen lassen müssen: Sie müssten nur die Ländervereinbarung ihrer Kultusministerinnen und -minister nicht unterzeichnen – bis diese ihre ureigenen Hausaufgaben für eine verlässlichere Bildungsplanung und für eine gleichwertigere, auskömmliche Bildungsfinanzierung der Schulen mit einem revidierten Artikel 21 in der Ländervereinbarung gemacht haben.

    Und wenn dann die Kultusministerkonferenz als das Ordnungsorgan im Kulturföderalismus den Föderalismus endlich wieder zu einer Stärke unseres Bildungssystems macht und um die besten Konzepte in den Bereichen

    • kluger Planung des zukünftigen Lehrkräftebedarfs,
    • ausreichender Lehrkräfteversorgung und deren Nachqualifizierung
    • und einer für alle Länder verbindlich-langen Dauer des Vorbereitungsdienstes der Lehrkräfte (statt des herrschenden Kunterbunts von 24, 21, 18, 16 und 12 Monaten)

    ringt, dann haben wir eine gute Chance, den “Bildungsnotstand” in unseren Schulen wirklich langfristig zu bekämpfen – und damit den “Betreuungsnotstand” übrigens ganz automatisch auch.

    Nach oben