Es liegt in der Natur des Menschen: Steht man vor einem Problem, ist der natürliche Reflex, eine Gegenmaßnahme zu ergreifen. In der Regel bedeutet dies eine zusätzliche Aktion. Besonders deutlich zeigt sich das im Bildungsbereich. Wenn Schule als Reparaturbetrieb für die Gesellschaft gesehen wird, treffen immer mehr Aufgaben auf eine sich verändernde Schülerschaft und den steigenden Lehrkräftemangel. Der bpv fordert daher bei seiner heutigen Fachtagung ein Umdenken und eine Abkehr von der „Mehr ist besser“-Logik.
Die mehreren tausend Rückmeldungen der großen bpv-Mitgliederumfragen der vergangenen drei Jahre sprechen beim Thema Zeitmangel eine deutliche Sprache: Zwischen 75 und 80 Prozent geben jeweils an, dadurch sehr hoch oder hoch emotional belastet zu sein. Den bpv-Vorsitzenden Michael Schwägerl verwundert der konstant hohe Wert nicht: „Die Schulen haben – als gerade die Normalität nach den Corona-Jahren wiederhergestellt war – erneut neue Aufgaben und Projekte bekommen. Eine Konsolidierung war also nicht möglich. Die von unseren Mitgliedern angegebene Belastungssituation wirkt sich auf die Lehrergesundheit aus. Daher brauchen wir dringend Lösungen, um in Zeiten von Lehrkräftemangel die Schulen zu entlasten und zu stärken – im Sinne unserer Schülerinnen und Schüler.“
Den Schulen werden seit Jahrzehnten immer neue Aufgaben in Form von Projekten und Maßnahmen aufgeladen, ohne jedoch deren Wirksamkeit zu prüfen. Dazu meint Schwägerl: „Natürlich lässt sich nicht jedes Projekt und jede schulische Aktivität unmittelbar auf Wirksamkeit überprüfen – manches braucht Zeit und ist Teil einer persönlichen Entwicklung. Aber die Idee, dass mehr nicht zwingend besser ist, muss in den Köpfen ankommen.” Denn die Schülerschaft wird auch an den bayerischen Gymnasien und FOSBOS zunehmend heterogener. Zudem sind nach den durch Corona geprägten Schuljahren Lernschwierigkeiten sowie psychosoziale Probleme verstärkt zutage getreten. Diese Herausforderungen treffen zum Schuljahr 2025/26 auf eine besondere Situation an den Gymnasien: Aufgrund der Rückkehr zum G9 und des Lehrkräftemangels werden etwa 1.300 Vollzeit-Lehrkräfte dauerhaft fehlen.
Das Konzept der „De-Implementierung“ (Wisniewski/Gottschling1, 2025) plädiert dafür, die „Mehr ist besser“-Logik abzulegen. Stattdessen sollen zum einen Maßnahmen verstärkt werden, die evidenzbasiert wirksam sind. Zum anderen sollen aber auch solche weggelassen werden, deren Nutzen fragwürdig oder sogar nicht ersichtlich ist. Schwägerl sieht das System Schule seit Jahren unter großem Druck: „Wir können nicht immer mehr von den Beteiligten fordern – schon gar nicht, wenn dafür nichts anderes wegfällt. Eine Konzentration auf das Wesentliche und wirklich Wirksame ist in dreifacher Hinsicht sinnvoll: Dieser Prozess setzt dringend benötigte Ressourcen frei. Gleichzeitig entlastet er und sorgt für einen klaren Fokus. Und zwar für alle an den Schulen: Für Schülerinnen und Schüler genauso wie für Lehrkräfte, Schulleitung und Verwaltung.“
Mit seiner heutigen Fachtagung, dem bpv-Forum, beleuchtet der bpv Bildung in Zeiten von Lehrkräftemangel, Leistungsrückgang und nach wie vor zu viel Bürokratie an den Schulen. Ziel der Veranstaltung ist es zu zeigen, wie durch De-Implementierung Prozesse auf allen Ebenen – von der Bildungsverwaltung bis zur einzelnen Lehrkraft – so gestaltet oder verzichtbar werden können, dass Ressourcen effektiver genutzt und schulische Freiräume geschaffen werden. Teil des bpv-Forums ist auch eine Podiumsdiskussion mit Kultusministerin Anna Stolz.
1Benedikt Wisniewski/Barbara Gottschling, Weniger macht Schule: Wie De-Implementierung schulische Freiräume schafft, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2025.