Die Tagung „Demokratie- und Wertebildung in der Schule“ in der Lutherstadt Wittenberg
von Walter Tetzloff
Kaum eine andere deutsche Stadt hätte eine höhere Symbolkraft für dieses Thema, allenfalls Frankfurt am Main oder Weimar. „Demokratie- und Wertebildung in der Schule“ scheinen notwendiger denn je seit Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949.
Zu der Tagung hatten die Landeszentrale für Politische Bildung Sachsen-Anhalt, der Deutsche Lehrerverband und der Deutsche Philologenverband gemeinsam eingeladen. Und wer wollte, der konnte sich schon am Vorabend einstimmen lassen: Eine abendliche Stadtführung, historisch kompetent und in souveräner Anschaulichkeit dargeboten, leitete das Wochenende ein. Dargeboten wurde der Stadtrundgang mit seinen geschichtsträchtigen Stationen von Oliver von der Linde, einem charismatischen Einheimischen, der als Lehrer, Historiker und Theologe sein Handwerk versteht und die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer ihre kalten Füße vergessen ließ, als er in knapp zwei Stunden durch die Altstadt führte und Schlosskirche, Stadtkirche und viele andere, nah beieinander stehende Gebäude vorstellte. Alle atmeten sie fünf Jahrhunderte Geschichte. Man fühlte sich dem Reformator Martin Luther und seinen 95 Thesen ebenso nah wie seinem persönlichen Leben, von denen gleich zwei Bauten Zeugnis ablegten. Ein paar Häuser weiter wirkte der große Theologe Philipp Melanchthon, und auch Lucas Cranach der Ältere, dessen Werkhof der Ausgangsort von so vielen Werken war, war in Wittenberg zu Hause, bis seine Malerei die weiten Wege in die Museen und Gemäldegalerien in der ganzen Welt fand.
v.l.n.r.: Stefan Düll, DL-Vorsitzender, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, DPhV-Vorsitzende, Dr. Reiner Haseloff,
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, und Staatssekretär Jürgen Böhm (Foto: Friedrich Pohl)
Dies konnte als schönes Prelude für die eigentliche Tagung gelten, die den nächsten Tag bestimmte. Das Geschichtsbewusstsein, das die Besucher am Vorabend so eindrucks- und wirkungsvoll erlebten, fand seine Fortsetzung und Ergänzung durch einen weiteren patriotischen Wittenberger, nämlich den Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Reiner Haseloff. Er ließ es sich nicht nehmen, die historische Bedeutung seiner Heimatstadt herauszustellen und mit der wechselvollen jüngeren Geschichte der Stadt bis in unsere Tage zu verbinden. Damit war er beim Thema seines Grußworts an die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Dies enthielt ein leidenschaftliches Bekenntnis zur deutschen Kulturnation und zur deutschen Sprache und deren Erhalt. Nicht ohne Stolz verwies der Regierungschef auf die anhaltischen Lehrplaninhalte, die diesem Credo Rechnung tragen und etwa die klassische Literatur inklusive Goethes „Faust“ berücksichtigen.
Da der historische Doktor Faustus sein Wirken in der Lutherstadt begann, erschien dieser Hinweis mehr als stimmig. Eine Warnung zum Ende des Grußworts gab diesem eine ernste Note, wenn der Ministerpräsident vor dem Verlust der Freiheit warnte, den diese Stadt bereits einmal erfahren hatte: Bereits ein Jahr vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 fand diese schon in Wittenberg statt. Die Folge war die Zerstörung der dortigen Synagoge. Mahnende Worte aus aktuellem Anlass.
Das folgende Gespräch zwischen Staatssekretär Jürgen Böhm und dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Stefan Düll, fügte sich dann geradezu logisch in die Ausführungen des Ministerpräsidenten. Für den Amtschef des sachsen-anhaltischen Bildungsministeriums sind Demokratieerziehung und Bildung nicht an bestimmte Schulfächer gebunden, sondern sollten Gegenstand aller Schulfächer sein. Er rief – als Angebot – dazu auf, dass Schulklassen Stätten der NS-Herrschaft wie der SED-Diktatur besuchen sollten. Aus aktuellen Anlässen dürfe durchaus einmal von Curricula abgewichen werden. DL-Präsident Stefan Düll ging vom Artikel 1 des Grundgesetzes aus und lobte die Bereitschaft der Lehrkräfte, trotz der Aufgabenfülle an den Schulen immer wieder Werte zu vermitteln, zu denen auch Barmherzigkeit gehöre. Kritisch setzte sich Stefan Düll mit dem heutigen Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen auseinander. So hätten die sogenannten „sozialen Medien“ die Lektüre von Zeitungen und die Nachrichtenaufnahme via Fernsehen und Hörfunk weitgehend ersetzt. Dem müsse die Pädagogik verstärkt Rechnung tragen.
Der anschließende Vortrag auf der Tagung „Demokratie- und Wertebildung in der Schule“ widmete sich dem „Neutralitätsgebot“ der staatlichen Schulen in Deutschland. Dieses Gebot bedürfe der Erläuterung und Konkretisierung, so Professor Dr. Andreas Petrik von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zunächst einmal erklärte Petrik die Genese dieses Gebotes als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur. Konkret bedeutet dies für Lehrkräfte die Verpflichtung, die Prinzipien des Grundgesetzes nicht nur einzuhalten, sondern auch einzufordern. Eine Fülle aktueller Beispiele wie die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus wurden vom Referenten angeführt und gleichzeitig heftig diskutiert. Besondere Aufmerksamkeit erregte dabei eine aktualisierte Weltkarte, auf der Grad der der Meinungsfreiheit in fünf Stufen und in Prozentangaben nach Ländern aufgezeigt wurde. Nicht ganz ohne Widerspruch nahmen einige Teilnehmer die Spitzenreiterplatzierung Finnlands hin, worauf sich ein ins Detail gehender Meinungsaustausch anschloss. Genugtuung herrschte über den hohen Wert festgestellter Meinungsfreiheit für unser Land, aber Zweifel über die Verfassungstreue der AfD wurden deutlich.
Podiumsdiskussion mit Moderator Bastian Wierzioch (mdr), Prof. Dr. Andreas Petrik, Universität Halle-Wittenberg, Dirk Heyartz, Bundeselternrat, Maik Reichel, Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, und Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, DPhV (Foto: Friedrich Pohl)
Die zentrale Talkrunde vor der Mittagspause bei der Tagung „Demokratie- und Wertebildung in der Schule“ widmete sich den „Aktuellen Herausforderungen und Umsetzungsmöglichkeiten mit dem Ziel, Vorurteile und Extremismus zu überwinden“. Hier stand ein wichtiges Postulat der DPhV-Bundesvorsitzenden, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, im Vordergrund. Sie forderte die Implementierung des Grundgesetzes in die erste Phase der Lehrerbildung. Kontrovers wurde die Debatte, als Prof. Dr. Petrick von einer Implementierung der politischen Bildung im Sinne einer Werteerziehung in allen Fächern abriet und diese eher in dem Fach „Politik“ verankert wissen wollte, wobei dieses Fach in den einzelnen Bundesländern eine unterschiedliche Bezeichnung hat.
Dirk Heyartz, der erst kürzlich wiedergewählte Vorsitzende des Bundeselternrates, forderte für die Eltern unserer Schülerinnen und Schüler eine Verbesserung und Intensivierung der Kommunikation mit politischen Entscheidungsträgern, auch und gerade, weil er den von ihm vertretenen Eltern eine große Rolle bei der Erziehung und der Wertebildung zusprach. Nachdrücklich forderte Heyartz einen angemessenen Anteil der staatlichen Investitionen für Bildung – gerade angesichts der gerade beschlossenen Sonderausgaben in Milliardenhöhe.
Vor dem Informations- und Diskussionsteil bei der Tagung „Demokratie- und Wertebildung in der Schule“ am Nachmittag, wo sich die 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmer (davon allein 70 aus Sachsen-Anhalt) auf sieben Workshops zu verschiedenen Aspekten der Politischen Bildung in der Schule verteilten, stellte Meinolf Ehlers sein Konzept „Use the News“ vor. Dabei geht es um Nachrichtennutzung zur Bildung und Stärkung der Demokratiefähigkeit in Schulen – gerade angesichts des in so vielen Fällen unkritischen Medienkonsums vieler Kinder und Jugendlicher.
Interessierte Tagungsteilnehmer arbeiten zusammen in einem Workshop (Foto: Friedrich Pohl)
Mit sieben Workshops deckte das Tagungskonzept dann ein großes Spektrum von Fächern und Ansätzen ab:
- Wie umgehen mit Extremismus und Verschwörungstheorien im Klassenzimmer?
- Interkulturelles Lernen als Wertebasis in der diversen Gesellschaft
- Spielend gegen Fake News
- Grundwertebildung an Schulen mit 10drei e. V.
- Musik in den Fächern und ihr Beitrag zur Demokratiebildung
- Die rassismuskritische VR-Brille
- Die Chancen des Philosophie- und Ethikunterrichts als wertereflektierendes Fach
Die Absicht der Tagungsinitiatoren lässt sich denn auch nicht besser zusammenfassen, als Prof. Dr. Lin-Klitzing es in ihrem Schlusswort formulierte: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen Sie stärken!“