von Friedrich Pohl
![Johann Sebastian Bach - Bachdenkmal](https://www.dphv.de/wp-content/uploads/2024/12/1_bach-denkmal-foto-andreas-schmidt-201x300.jpg)
Bachdenkmal (Credits: Andreas Schmidt)
Es gibt keinen Komponisten von Weltrang, dessen Werk so sehr von seiner Tätigkeit als Lehrer profitiert hat, wie Johann Sebastian Bach (1685-1750). So einzigartig und universell seine Musik auch sein mag, ohne die kräftige Mithilfe seiner direkten Schüler (Schülerinnen sind tatsächlich nicht zweifelsfrei zu belegen) hätte sie wohl kaum die heutige Wirkmacht entfaltet und ihrem Schöpfer zu globalem Ruhm verholfen. Dass zahlreiche seiner Werke wie beispielsweise das Weihnachtsoratorium jetzt im Dezember weltweit zum Standardrepertoire gehören, war im 18. Jahrhundert alles andere als absehbar.
Auch wenn Bachs Musik nach seinem Tod nicht komplett in Vergessenheit geriet, so entsprach sie doch schnell nicht mehr dem (galanten) Zeitgeist und verschwand weitgehend aus dem öffentlichen Musikleben. Abgesehen davon hatte es Bach selbst zu seinen Lebzeiten nur zu vergleichsweise überschaubaren Ruhm gebracht. Sicher zeugte seine letzte Anstellung als Thomaskantor zu Leipzig und die Ernennung zum „Kurfürstlich Sächsischen und Königlich Polnischen Hof-Compositeur“ von grundlegender, regionaler Anerkennung, doch an internationaler Popularität konnte er seinen (von ihm sehrgeschätzten) Zeitgenossen Georg Friedrich Händel (1685-1759), Georg Philipp Telemann (1681-1767) und Antonio Vivaldi (1678-1741) nicht das Wasser reichen.
Allerdings hatten auch die Werke der Genannten nach ihrem Tod den Kampf gegen das Vergessen zu führen. Die Pflege der „Alten Musik“ wie sie heute selbstverständlich ist, fand im ausgehenden 18. Jahrhundert – wenn überhaupt – im geistlichen Rahmen statt, wo Kirchenmusiker im Zweifel (oder aus Zeitnot) auf bereits vorhandenes Notenmaterial zurückgriffen. Im Fall von Johann Sebastian Bach ergab sich sogar die Besonderheit, dass seine Söhne nach seinem Tod wesentlich berühmter waren als der Vater. Wer in den 1770er- und 1780er-Jahren „Bach“ sagte, meinte damit in aller Regel Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel (1714–1788). Der diente unter anderem als Cembalist am Hof Friedrichs des Großen und wurde später Musikdirektor in Hamburg an den fünf Hauptkirchen und Kantor am Johanneum – Positionen also, die mit großem Renommee verbunden waren. Johann Sebastian Bach selbst war „der alte Bach“ oder „Sebastian Bach“. Das korrekte „Johann Sebastian Bach“ setzte sich erst im Laufe der fortschreitenden Bach-Forschung durch. Noch im Jahr 1873 benannte die Stadt Leipzig ihm zu Ehren eine Straße verkürzt „Sebastian-Bach-Straße“. Sie heißt auch heute noch so.
Neue Forschung zu Bachs Schülern
DPhV-Pressesprecher Friedrich Pohl und Bach-Forscher Dr. Bernd Koska (Quelle: Thomas Langer)
Angesichts der Tatsache, dass die Bach-Schüler die Musik ihres Meisters vor dem Vergessen bewahrten und ihr damit letztlich zum späteren Weltruhm verhalfen, hatte die Bach-Forschung dem Thema „Lehrer Bach und seine Schüler“ verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst in den vergangenen Jahren gab es vermehrte Anstrengungen. Vor ein paar Monaten legte Prof. Dr. Ingo Bredenbach mit „Johann Sebastian Bachs Clavierunterricht – Bach als Lernender und Lehrender“ (Bärenreiter, 2024, 519 Seiten) ein bemerkenswertes Standardwerk vor, das Bachs Einflüsse und pädagogisches Wirken detailliert beleuchtet.
Den Stein ins Rollen gebracht hatte vor allem Dr. Bernd Koska. Der am Bach-Archiv in Leipzig arbeitende Forscher stellte für das Bach-Jahrbuch 2019 eine vielbeachtete Liste sämtlicher namentlich bekannter Privatschüler von Bach zusammen. Diese unterteilt sich in „gesicherte“ Schüler (81), „vermutliche“ Schüler (44) und auch „vermeintliche“ Schüler (32). Schon seinerzeit hatte Koska darauf hingewiesen, dass seine Liste nur ein Ausgangspunkt sein könne, die als Basis für weitere Forschung dienen würde und somit keinen Anspruch auf finale Gültigkeit stellen könne. Überdies muss man sich klar machen, dass Bach darüber hinaus weitere rund 400 Internatsschüler der Thomasschule unterrichtet haben dürfte. Alles in allem kommt er also auf ca. 500 Schüler (eine voll berufstätige Gymnasiallehrkraft unterrichtet bspw. im Laufe ihres Lebens ca. 3.000 bis 4.000 Schüler).
Bevor wir uns dem Lehrer Bach widmen, zunächst noch einige Schlaglichter auf den außermusikalischen Schüler Bach: Mit sieben Jahren kam er in Eisenach auf die Lateinschule des ehemaligen Dominikanerklosters. Nach dem Tod seiner Eltern zog Bach zu seinem Bruder Johann Christoph nach Ohrdruf und besuchte dort das Lyzeum bis zur Prima. Später wechselte er an die Partikularschule des Lüneburger Michaelisklosters, die ein höheres akademisches Niveau bot und im Verhältnis zur Zeit heute mit einem Gymnasium verglichen werden könnte. Wir dürfen annehmen, dass sich Bach in den seinerzeit wichtigen Fächern (Latein, Griechisch, Mathematik, Geografie, Katechismus und evangelische Religion) profundes Wissen angeeignet hatte, das ihn auch zu einem Studium befähigt hätte – was er aber nie antrat. Wohl aus finanziellen Gründen, aber auch mangels Interesses der Fächerauswahl der Zeit. Musik konnte man noch lange nicht studieren. Telemann und Händel beispielsweise begannen ein Studium (Jura), brachen es aber auch relativ schnell zugunsten der Musik wieder ab.
Bei Bachs Wahl der Arbeitgeber spielten zeitlebens die begleitenden Optionen auf Zuverdienste zur eigentlichen Stelle eine wichtige Rolle. U.a. waren Privatschüler eine gute Einnahmequelle. Zudem konnten sich die talentiertesten von ihnen als nützliche Gehilfen erweisen, einige Schüler wohnten auch bei Bach. Allerdings stand der Unterricht bei den meisten Stationen (Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, Köthen) nie im Zentrum der Karriere. Es handelte sich um einen mal mehr, mal weniger umfangreichen Bonus. Dennoch entstand eine Win-Win-Situation. Für die Schüler lohnte sich neben der soliden Ausbildung schon allein das Bach-Siegel auf dem Empfehlungsschreiben (quasi das Zeugnis seiner Zeit). Das ließ sich Bach übrigens gern als eine Art „Abschiedsgeschenk“ bezahlen. Die Schüler wiederum wussten, dass sie damit gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten. Dass dem so war, bezeugt, dass eben nicht nur Bachs Söhne, sondern auch zahlreiche seiner Schüler, begehrte Musikerstellen bekleiden konnten. Koska sagt: „Das Prädikat ‚Bach-Schüler‘ war ein Qualitätssiegel, das viele Türen öffnete.“
Bach-Museum Leipzig: Fundgrube für den Unterricht
Das Bach-Museum tritt mit unterschiedlichen Besuchergruppen aller Altersstufen in Dialog: u.a. auch mit gehörlosen, blinden und sehbehinderten Menschen, Pädagogen und Künstlern. Hier gibt es ein reiches Angebot an Führungen, Mitmach-Programmen und Workshops für Kinder und Jugendliche.
Anmeldung und Informationen:
Tel. +49 341-9137-214
E-Mail: museumspaedagogik@bach-leipzig.de
https://www.bachmuseumleipzig.de/
Entstehung der „Bachischen Schule“
Welches Temperament hatte Bach als Lehrer? Da verhält es sich ähnlich wie beim Menschen Bach. Man kann vieles nur erahnen. Wenig überraschend legte er nach Aussagen seiner Schüler viel Wert auf Disziplin, Fleiß, Genauigkeit („Reinheit des Spiels“, wie Carl Philipp Emanuel schrieb). Das mag sicher „streng“ gewirkt haben. Mutmaßliche Zornesausbrüche sind aber nicht belegt.
Entscheidend ist aber, welchen Weg Bach als Musikpädagoge ging. Zunächst stand er vor der zeitlosen Herausforderung aller Lehrkräfte: geeignetes Unterrichtsmaterial finden. Und das war Anfang des 18. Jahrhunderts für Instrumente aller Art praktisch unmöglich. So komponierte Bach die Übungsstücke eben selbst. Dabei handelte es sich um nicht weniger als heute selbstverständliche Meisterwerke: von den kleinen Präludien und Inventionen bis hin zu den teils hochkomplexen Präludien und Fugen im „Wohltemperierten Klavier“.
Später stellte er für Familienmitglieder „Notenbüchlein“ zusammen – bestehend aus eigenen und fremden Werken. Koska sagt: „Bach hat seine Sammlungen wie die ‚Inventionen und Sinfonien‘ oder den ersten Teil des ‚Wohltemperierten Klaviers’ erst in Köthen, also zwischen 1717 und 1723, systematisch geordnet und so eine Basis für den Unterricht geschaffen. Diese Art des selbst entwickelten Lehrplans wurde später als ‚Bachische Schule‘ bezeichnet.“ Dass diese Werke einmal in großen Konzertsälen gespielt werden sollten, dürfte Bach kaum im Sinn gehabt haben. Schon allein, weil die Lautstärke der seinerzeit verfügbaren Instrumente (also meist Clavichord oder Cembalo) nicht ansatzweise an das Volumen moderner Konzertflügel heranreichten.
Wie sehr die Bach-Schüler die Werke ihres Meisters geschätzt haben dürften, belegen die zahlreichen handschriftlichen Abschriften seiner Werke (die wenigsten erschienen zu Bachs Lebzeiten gedruckt und dann nur in geringer Auflage). In weiten Lehrerkreisen etablierten sie sich als unverzichtbares Unterrichtsmaterial, das geradezu zwangsläufig irgendwann in die Hände von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) fiel. Letzterer gab 1829 mit der Aufführung von Bachs Matthäus-Passion in der Berliner Sing-Akademie den Startschuss für den beispiellosen Erfolgszug Bachscher Werke aller Gattungen im öffentlichen Konzertleben – bis zum heutigen Tag. Bach hat unter den klassischen Komponisten heute nicht nur die meisten Google-Treffer, sondern führt auch beispielsweise beim Streamingdienst Spotify vor Mozart und Beethoven.
Thomasschule und Thomaskirche um 1723 (Quelle: Sammlung Bach-Archiv Leipzig)
Thomaskantor in Leipzig: Vom Privatlehrer zum Klassenlehrer
Soweit der Privatlehrer Bach, zum Klassenlehrer wurde er erst während seiner letzten, aber auch längsten Berufsstation in Leipzig (von 1723 bis zu seinem Tod 1750). Das von ihm hier bekleidete Amt des Thomaskantors beinhaltete zunächst u.a. neben dem Musikunterricht auch den Unterricht in Latein. Bach wäre um ein Haar also auch Lateinlehrer geworden, doch diesen Teil verhandelte er sich aus und bezahlte dem Tertius der Thomasschule 50 Reichstaler pro Jahr, damit dieser den Lateinunterricht übernahm – immerhin die Hälfte von Bachs Festeinkommen. Von einer professionellen, pädagogischen Ausbildung wie heute waren Lehrkräfte seinerzeit weit entfernt. Im Grunde begnügte man sich damit, dass die entsprechende Person über das Wissen eines Fachs verfügte und dann die Schüler entsprechend „informieren“ könne. Insofern war Bach formal ausreichend qualifiziert.
Die Thomasschule war für die damalige Zeit eine anspruchsvolle Bildungseinrichtung, die besonderen Wert auf eine umfassende humanistische und musikalische Ausbildung legte. Sie spielte eine zentrale Rolle im kulturellen und religiösen Leben Leipzigs. Bei ihrer Bewerbung um einen Platz im Alumnat (Internat) waren die Knaben in der Regel 13 bis 14 Jahre alt. Die Altersstruktur der Thomaner entsprach zu Bachs Zeit also eher einem Jugendchor als einem Kinderchor. Johann Sebastian Bach unterrichtete die Klassen in der Aula der Schule, insgesamt sieben Stunden pro Woche.
Das mag nach einem überschaubaren Unterrichtsdeputat aussehen, doch die Erwartungen der Ratsherren an den Thomaskantor waren gewaltig. Neben dem Musikunterricht sollte Bach herausragende Musik komponieren (gern eine neue Kantate pro Woche!) und auch noch für die Bespielung von vier Leipziger Kirchen (St. Thomae war nur eine davon) sorgen.
Ärger mit dem Dienstherrn
Das alles ging schnell mit großen Problemen einher. Prämien für zusätzliche Musiker und studentische Helfer wurden Bach früh gestrichen, und auch bei der Auswahl der Schüler redete die Stadt immer mehr mit. Denn diese sollten aufeinmal verstärkt aus Leipzig selbst und nicht aus dem Umland kommen – ungeachtet ihrer musikalischen Fähigkeiten. Der Streit eskalierte. In einer dies thematisierenden Denkschrift an das Leipziger Rathaus listetet Bach seine 54 Alumnen auf und unterteilt sie in „17 zu gebrauchende, 20 noch nicht zu gebrauchende, und 17 untüchtige“.
Geholfen hat es wenig. Bach musste sogar viele der „Untüchtigen“ nehmen, was offensichtlich nicht gerade motivationsfördernd war. Und so verrichtete er in Thomasschule-Fragen mit fortschreitender Zeit nur das Allernötigste, „innere Kündigung“ würde man heute wohl sagen. Immerhin blieb ihm so wenigstens genügend Kraft, um zahlreiche Meisterwerke zu schreiben,
die ohne Zweifel als künstlerischer Gipfel ihrer Gattung gelten (u.a. „Johannes-Passion“, „Matthäus Passion“, „h-moll-Messe“, „Kunst der Fuge“). Daneben entfaltete Bach ein vielseitiges Tätigkeitsspektrum außerhalb der Schule: Kompositionsaufträge, Kaffeehausmusiken, Orgelprüfungen, Privatunterricht – alles, was die florierende Messestadt Leipzig und ihre Umgebung hergab.
So gewaltig Bachs musikalisches Schaffen seiner letzten 23 Lebensjahre als Thomaskantor in Leipzig auch war, so profan liest sich seine Bilanz als angestellter Lehrer: Ärger mit dem Dienstherrn, unterschiedliche Leistungsniveaus der Schülerschaft, unzureichende Rahmenbedingungen, ausbaufähige Bezahlung, unverhältnismäßige Aufgabendichte, Suche nach geeignetem Unterrichtsmaterial – Bach mag einer der berühmtesten Komponisten der Welt sein, als Lehrkraft teilte er die alltäglichen, zeitlosen Nöte mit den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen.