von Friedrich Pohl
Der Wissenschaftliche Beirat diskutiert PISA und seine Folgen (Quelle: Friedrich Pohl)
Seit fast einem Vierteljahrhundert ist PISA (Programme for International Student Assessment) bedeutsam in der bildungspolitischen Debatte in Deutschland. Ende 2023 erschien die jüngste Publikation „PISA 2022 Ergebnisse – Lernstände und Bildungsgerechtigkeit. Band I“ (521 Seiten). Im Zuge der Veröffentlichung hatte der PISA-Koordinator Andreas Schleicher (der die Studien seit Anbeginn konzipiert) viel Unmut auf sich gezogen, indem er deutsche Lehrkräfte u.a. als „Befehlsempfänger“ bezeichnete und das mehrgliedrige Schulsystem als Ursache der nachlassenden Leistungen ausmachte – ohne soliden Anhaltspunkt, denn aus PISA-Daten kann man keine kausalen Rückschlüsse ziehen. Der DPhV forderte darauf von der Kultusministerkonferenz (KMK) ein Aussetzen der PISA-Studien, solange Andreas Schleicher deren Koordinator ist. Im dbb-Jahresgespräch mit der KMK teilten die Kultusminister unseren Eindruck: Es gibt keine derartige Kausalität. Ganz abgesehen davon, dass die für PISA in Deutschland erhobenen Daten (6.116 Schülerinnen und Schüler an 257 Schulen) unmöglich die 16 unterschiedlichen Bildungssysteme in den Bundesländern repräsentieren können, schreiben selbst die OECD-Autoren: „Im OECD-Vergleich entfallen aber nur 12 % der Varianz der Mathematikleistungen auf Unterschiede zwischen Bildungssystemen. Anders ausgedrückt: Die Merkmale der Bildungssysteme spielen keine wichtige Rolle für die Erklärung der Unterschiede bei den Schülerleistungen in den OECD-Ländern.“ (S. 71)
Prof. Dr. Kristina Reiss von der TU München (Quelle: Friedrich Pohl)
Dies alles war ein guter Anlass für den wissenschaftlichen Beirat des DPhV, PISA einer kritisch-konstruktiven Betrachtung zu unterziehen. So stand die diesjährige Tagung in Berlin unter dem Motto „PISA revisited“. Den Eingangsimpuls lieferte Prof. Dr. Kristina Reiss (TU München, Didaktik der Mathematik). Sie forschte aus unterschiedlichen Perspektiven zum Thema „Mathematische Kompetenz“, leitete bis 2021 die Auswertung der PISA-Studien in Deutschland und war entsprechend eng in deren Konzeption eingebunden, zumal der diesjährige Schwerpunkt auf dem Fach Mathematik lag.
Reiss ging zunächst auf die PISA-Methodik und deren jeweilige Schwerpunkte in den vergangenen Jahren ein (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften) – alles vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Fragestellungen: Wie wirksam sind die Bildungssysteme in den Staaten der OECD? Kommen sie ihrem Auftrag in ausreichender Weise nach? Sind die Bildungssysteme geeignet, allen Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu eröffnen? Unter welchen Bedingungen findet schulisches Lernen in den Staaten der OECD statt?
Mit Blick auf den jüngsten PISA-Schwerpunkt Mathematik verwies Reiss auf teils veränderte Sichtweisen. Ging es historisch um grundlegende arithmetische Fähigkeiten (z. B. Rechnen mit ganzen und rationalen Zahlen, Berechnung von Flächen), sind inzwischen neue Blickfelder dazugekommen: die Digitalisierung vieler Lebensbereiche, die Allgegenwärtigkeit von Daten für Entscheidungen, gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawandel, Ausbreitung von Pandemien, die Globalisierung der Wirtschaft.
Die Leistungen der deutschen Schüler sind in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen – womit sie allerdings im allgemeinen OECD-Trend liegen. (Auch die Leistungen der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien sind vom Rückgang betroffen, allerdings liegen ihre Leistungen auf einem weit höheren absoluten Niveau als die der Schüler an nichtgymnasialen Schulen.)
Als mögliche Konsequenz daraus warb Reiss u.a. für einen Blick auf erfolgreichere Staaten – wenn auch mit Berücksichtigung der kulturellen Unterschiede. Für Mathematik konkret schlug sie eher am Alltag orientierte Anwendungen vor, mehr Fehlertoleranz und einen größeren Schwerpunkt auf dem Weg zum Lösungsziel. Auch die erhöhten Leistungen in modernen Fremdsprachen („kommunikative Wende“ seit den 1970er-Jahren) sei insofern bemerkenswert, als dass dadurch möglicherweise auch Impulse für den Mathematikunterricht übernommen werden könnten.
Gerade der Blick auf mögliche Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen entfachte eine intensive Diskussion. Vor allem Arnd Niedermöller, Schulleiter des Imanuel-Kant-Gymnasiums in Berlin Lichtenberg und Vorsitzender der Vereinigung der Oberstudiendirektorinnen und Oberstudiendirektoren des Landes Berlin e.V., mahnte zu großer Vorsicht bei bildungspolitischen Maßnahmen allein auf Grundlage der PISA-Daten. Einer seiner zentralen Kritikpunkte ist das Schlechtreden des Bildungssystems in Deutschland. In der öffentlichen Debatte würden pauschale und oft übertriebene Aussagen getroffen, wie etwa „Unser Schulsystem ist ungerecht!“ oder „Bildungskatastrophe!“. Dabei werde häufig ein Vergleich mit anderen Ländern gezogen, die angeblich deutlich besser abschnitten. Niedermöller sieht in dieser Art der Argumentation eine ungerechtfertigte Schuldzuweisung, häufig vor allem an das Gymnasium und betont, dass der Fokus auf das punktuelle Übertragen erfolgreicher Bildungssysteme anderer Länder auf Deutschland die Diskussion vereinfache und vereinseitige.
Darüber hinaus hinterfragte Niedermöller die Aussagekraft der PISA-Ergebnisse im Hinblick auf die Beurteilung des deutschen Bildungssystems insgesamt. Während Schülerinnen und Schüler aus dem oberen Leistungsviertel im internationalen Vergleich sehr gute Ergebnisse erzielen, zeigt sich gleichzeitig ein größerer Abstand zwischen den oberen und unteren Leistungsgruppen. Länder wie Finnland oder Kanada schneiden hier homogener ab. Niedermöller fragte jedoch, ob die Konzentration auf das Gesamtergebnis der Studie tatsächlich ein realistisches Bild der Leistungsfähigkeit des gesamten deutschen Schulsystems zeichne oder ob dies nicht eher zu pauschalierenden Fehleinschätzungen führe.
Statt das deutsche Bildungssystem generell abzuwerten, fordert Niedermöller eine differenzierte Betrachtung der PISA-Ergebnisse. Besonders wichtig sei ihm, den Blick auf konkrete Herausforderungen zu richten, die sich aus den Ergebnissen ableiten lassen. So hebt er beispielsweise die Frage hervor, wie die sprachlichen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund frühzeitig gefördert werden können. Auch die gezielte Unterstützung von Schulen, die einen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern aus sogenannten „Risikogruppen“ haben, sieht er als dringende Aufgabe an.
Abschließend betont Niedermöller, dass seine Kritik sich nicht gegen PISA selbst richte, sondern gegen die Art und Weise, wie die Ergebnisse in der öffentlichen Diskussion häufig instrumentalisiert würden. Die Ergebnisse dürften nicht als Grundlage für eine pauschale Abwertung des deutschen Schulsystems dienen, sondern als Ausgangspunkt für eine sachliche und lösungsorientierte Diskussion über die konkreten Herausforderungen, vor denen die deutsche Bildungslandschaft stehe.
Prof. Dr. Nele McElvany (TU Dortmund, u.a. Lehr-/Lernforschung im schulischen Kontext) stellte in ihrem Vortrag PISA im Kontext mit IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) vor. Sie verwies auf die entscheidende Bedeutung der Lesekompetenz, deren Grundlagen bereits in der Grundschule gelegt werden. Zwar liege Deutschland hier im Mittelfeld, aber in den vergangenen 20 Jahren sei die Lesekompetenz signifikant zurückgegangen. McElvany plädiert daher für konsequente Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenz, insbesondere für frühe Sprachförderung, wirksame Interventionen und datengestützte Schulentwicklung. Sie betonte die Notwendigkeit einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis, um Erkenntnisse aus Studien in die Schulentwicklung einfließen zu lassen.
Matthias Böhme, Referatsleiter im sächsischen Kultusministerium (Quelle: Friedrich Pohl)
Die politische Sicht vertrat Matthias Böhme. Er ist Referatsleiter im Sächsischen Kultusministerium für die Bereiche Grundsätze, Qualitätsentwicklung, Bildungsmonitoring und Internationales. „Die Kompetenzwerte müssen uns nachdenklich machen“, sagte er in Bezug auf das Abschneiden Deutschlands. Allerdings zeichne sich gerade Sachsen neben Bayern immer wieder als Land mit den besten Schülerleistungen im bundesweiten Vergleich aus. Da PISA die föderalen Strukturen in Deutschland nicht berücksichtige, könne die Politik auch nur eingeschränkt Rückschlüsse ziehen und man müsse vorsichtig sein, hier „keine Datenfriedhöfe“ zu produzieren. Andererseits hält Böhme PISA auch nicht für unnötig. Man müsse die Daten aber mit besonderer Berücksichtigung der föderalen Strukturen in Deutschland lesen.
Einen besonderen Blick auf die nationalen Auswirkungen von PISA auf Standards, Lehrpläne und Unterricht richtete Prof. Dr. Maik Walpuski (Universität Duisburg-Essen). Grundsätzlich attestiert er der deutschen Bildungslandschaft seit dem „PISA-Schock“ im Jahr 2000 Fortschritte hinsichtlich der Implementation von Standards und der Beschreibung der tatsächlichen Kompetenzen.
So wurden die Lehrpläne der Länder basierend auf den Bildungsstandards überarbeitet und länderübergreifend überprüft. Auch bei verbindlichen Abschlussprüfungen (Abitur) würden sich die Länder annähern. Allerdings gebe es in Bezug auf gewünschte Veränderungen im Unterricht und der tatsächlichen Kompetenzstände noch einiges zu tun.
Grundsätzlich positiv attestierte Walpuski, dass PISA in Deutschland eine Bildungsdiskussion ausgelöst habe. Man wisse inzwischen relativ viel über die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, aber vergleichsweise wenig über den Unterricht und die Lehrkräfte. An dieser Stelle warb Walpulski für mehr Beachtung des Unterrichts. Walpulski machte die Entwicklung auch anhand des Schulfachs Chemie deutlich.
Für das Schulfach Deutsch und die Deutschdidaktik referierte Prof. Dr. Katrin Kleinschmidt-Schinke (Oldenburg) zunächst auch kritische Stimmen zur PISA-Studie aus der Fach-Community, z. B. dass PISA z. T. die „textliche Qualität“ (Karg 2013) verkenne (wie die Ambiguität literarischer Texte) sowie den „Möglichkeitssinn“ beim literarischen Lesen und die „Identitätsbildung und ästhetische Sensibilität“ (Spinner, 2013) wenig berücksichtige.
Zudem wurde in der Deutschdidaktik die Gefahr der Hintanstellung literarischen Lernens gegenüber der Förderung der basalen Lesekompetenz (vgl. Spinner 2004) diskutiert sowie die Möglichkeit der „Vernachlässigung literatur- und kulturgeschichtlichen Wissens“ (Wieser 2017) – und ganz grundlegend die Gefahr des „teaching to the test“ (Frederking et al. 2004) gesehen.
Kleinschmidt-Schinke stellte aber insbesonders heraus, dass es im Zuge der PISA-Studien maßgeblich zur Empirisierung der Deutschdidaktik kam, was zu einer stärkeren Evidenzbasierung geführt habe. Ferner stellt sie dar, dass die PISA-Studien und die (internationalen) Schulleistungsstudien weitere vielfältige Fokuswechsel in der Deutschdidaktik ausgelöst haben. So kam u. a. viel stärker der Zusammenhang zwischen Lesediagnostik und Förderung in den Blick sowie in diesem Zuge die Förderung weiterer Zielgruppen, wie insbesondere ,schwacherʻ Leserinnen und Leser oder von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache. Und auch die Förderung basaler Aspekte von Lesefähigkeiten (wie flüssiges Lesen) wurde viel mehr fokussiert.
Es wurden zudem neue Gegenstände behandelt, wie nicht-kontinuierliche Texte, der Medienverbund oder digitale Texte. Sie zeichnete ferner den Wandel der Aufgabenkultur nach – hin zu Aufgaben, die Anforderungen und Unterstützung stärker als zuvor ausbalancieren. Auch für den Sprachunterricht haben sich Kleinschmidt-Schinkes Einschätzung nach Folgen aus der PISA-Studie ergeben: Es wurden vermehrt sprachsystematische, silbenanalytische Förderkonzepte (im Unterschied zu lautorientierten Konzepten) für den Schriftspracherwerb erarbeitet. Außerdem wurde ein Verständnis dafür entwickelt, dass sich Defizite in der Bildungssprache kumulativ in Sachfächern auswirken können (Baumert/Schümer 2001).
Es müsse aber weiterhin am Transfer der Erkenntnisse der deutschdidaktischen Forschung in den konkreten Unterricht gearbeitet werden. Dabei zitierte sie u.a. Dorothee Wieser (2017): „Inwiefern die entsprechenden deutschdidaktischen Forschungsvorhaben und Debatten oder die bildungspolitischen Maßnahmen […] auch zu konstruktiven Veränderungen des Unterrichts in den Schulen geführt haben, erscheint weniger eindeutig, wenn nicht zumindest in Teilen fraglich“.
Kleinschmidt-Schinke schloss mit den Forderungen der AG Leseverstehen des Symposions Deutschdidaktik (SDD): einerseits die Vermittlung evidenzbasierten Wissens über Leseverstehensprozesse, Leseförderung und Lesediagnostik, andererseits eine stärkere Vernetzung der an der lesebezogenen Lehrkräfteausbildung beteiligten Akteurinnen und Akteure unterschiedlicher Disziplinen voranzutreiben.
Und damit zurück zur Eingangsfrage: Was hat PISA nun nach fast 25 Jahren `gebracht´? Ein endgültiges, allumfassendes Fazit verbietet schon die wissenschaftliche Sorgfaltspflicht. Zu komplex ist die Datenmenge, zu unterschiedlich die internationalen Bildungssysteme, zu kontrovers die Debatte um das PISA-Design und die Interpretation der Daten. Positiv kann man sicher feststellen, dass PISA seinen Teil dazu beigetragen hat, Bildungspolitik in Deutschland auf ein größeres Podium zu stellen und Leistungsrückgänge auch für eine breitere Öffentlichkeit zu dokumentieren.
Der Blick auf die PISA-Ergebnisse zeigt jedoch, dass das alle drei Jahre wiederholte Durchführen der Studie selbst offenbar nicht zu besseren Leistungen geführt hat, was die allgemein abfallenden Leistungskurven der vergangenen Jahre zeigten. Und dass ein simpler Verweis auf frühere „Musterschüler“ wie Finnland mitnichten ein Garant für leistungsfähigere Schulsysteme ist, eben weil ein solch singulärer Hinweis nicht nur die unterschiedlichen Eigenarten der Schulsysteme, sondern auch die gesellschaftlich-kulturellen Komplexitäten völlig außen vor lässt. Nicht zuletzt zeigt aber auch die (auch beim wissenschaftlichen Beirat) intensiv geführte Debatte um die PISA-Interpretationshoheit, wie heikel, ja gefährlich verknappte und vereinfachte Narrative sein können. Was übrigens im Zusammenhang mit PISA auch für die von der OECD häufig kritiklos ins Feld geführten 4K (Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation und Kollaboration) gilt – für deren Auswahl keine wissenschaftliche Begründung vorliegt.
Es ist sicher wünschenswert, dass bei kommenden PISA-Studien (die es trotz aller Kritik und Kosten weitergeben wird) die Darstellung und Interpretation der Daten weitaus differenzierter vorgenommen wird als bisher, vor allem in der medialen Darstellung. Doch diese Hoffnung ist wahrscheinlich naiv. Hatte der erste „PISA-Schock“ noch wochen- bzw. monatelange Debatten nach sich gezogen (die zumindest etwas Raum für Vertiefung boten), war das Interesse der meisten größeren Medien an PISA dieses Mal schon kurz nach der Veröffentlichung merklich abgeebbt. Als hätte man sich an den Niedergang gewöhnt und nimmt ihn nur noch müde zur Kenntnis.