von Walter Tetzloff
Er war im 18. Jahrhundert das bewunderte Genie und der Wegbereiter künftiger Epochen wie des Sturm und Drang und der Romantik. Das schließt aber keineswegs aus, dass er in deutlicher und nachdrücklicher Opposition zum Zeitgeist seiner Epoche stand. Als Aufklärer verstand sich Friedrich Gottlieb Klopstock nicht, und Gotthold Ephraim Lessing tat sich zeit seines Lebens schwer mit dem berühmten Zeitgenossen. Von einer ebenso großen Distanz war die Rezeption Klopstockscher Lyrik durch die beiden Großen der Weimarer Klassik, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, bestimmt. Diese waren es auch, die weit über ihren Tod hinaus die Literatur des 19. Jahrhunderts prägten, und zwar in allen drei literarischen Gattungen: Drama, Epik und Lyrik, und nicht Klopstock, der doch gerade als „Wegbereiter“ bezeichnet wurde.
Wie passt das zusammen, und welche Bedeutung hat der große Dichter des 18. Jahrhunderts noch für die Leserinnen und Leser? Hat er überhaupt noch eine Resonanz? Diese Frage stellt sich auch für den Deutschunterricht unserer Tage, wo ministerielle Vorgaben sich darin gefallen, von jeglichem Literaturkanon abzukommen und der Literaturgeschichte abzuschwören zu Gunsten eines fast beliebigen, sprachliche Kommunikation in den Vordergrund zu stellenden „Anything goes“.
Klopstock, dem maßgeblichen Vertreter der deutschen Empfindsamkeit, nähert man sich am besten über seine Biographie. Geboren wurde er am 2. Juli 1724 in Quedlinburg (im heutigen Sachsen-Anhalt), und sein Leben endete am 14. März 1803 in Hamburg. Friedrich wuchs in einer bürgerlichen Familie auf, deren Wohlstand und deren Lebensumstände allerdings durch die siebzehn Kinder der Eltern eingeschränkt wurde. Den bürgerlichen Ansprüchen der Zeit entsprechend, erhielt der Älteste eine an den griechischen und lateinischen Klassikern ausgerichtete Schulbildung in der Fürstenschule in Schulpforte. Es dauerte nicht lange, bis sich Schreibtalent, Fixierung auf die griechischen Epen und pietistische Empfindsamkeit zu einer fruchtbaren Synthese zusammenfanden. Ja, in diese Zeit fallen bereits die ersten Entwürfe zu seinem lebensbegleitenden großen Werk, dem Epos „Messias“, das – in zwanzig Gesänge unterteilt – über Jahrzehnte seine Arbeit bestimmte und ihm zu Ruhm in der Gesellschaft, Bewunderung in einer breiten Leserschaft und wohl auch – überschaubarem – materiellem Wohlstand verhalf.
Die Abstände, in denen Klopstock seinen „Messias“ verfasste, können nicht isoliert von seinen persönlichen Beziehungen und seinen Aufenthalts- und Schaffensorten gesehen werden. Als junger Mann verliebte er sich in eine erst sechzehn Jahre alte Schwester eines engen Freundes, Maria Sophie Schmidt, ein selbstbewusstes und zur Koketterie neigendes Mädchen. Diese schwärmerische Verehrung des Dichters führt zwar nicht zur erwünschten Erfüllung, sie ist aber von literaturgeschichtlicher Relevanz! Die Liebesgedichte, die Klopstock jetzt (und später immer wieder) verfasst, haben so gar nichts von der manierierten Betulichkeit und auch Harmlosigkeit barocker und frühaufklärerischer Liebeslyrik, sondern faszinieren aufgrund ihrer Unmittelbarkeit. Die grammatische erste und die zweite Person dominieren. Die direkte Ansprache herrscht vor. In einem seiner Verse an das geliebte Mädchen heißt es in schwärmerischem Begehren:
„Du Fanny fehlst mir!
Einsam, von Wehmut voll,
Und bang und weinend, irr ich,
und such dich, …“
Auch das spätere, von vielen Leserinnen und Lesern damals wie heute als das schönste Klopstock-Gedicht bezeichnete Werk „Das Rosenband“ ist von Unmittelbarkeit und persönlichen Gefühlen bestimmt, auch wenn es literarische Vorbilder aus der Anakreontik nicht ganz verleugnen kann:
„Im Frühlingsschatten fand ich Sie;
Da band ich Sie mit Rosenbändern:
Sie fühlt es nicht, und schlummerte.
Ich sah Sie an; mein Leben hing
Mit diesem Blick an Ihrem Leben:
Ich fühlt’ es wohl, und wußt’ es nicht.
Doch lispelt’ ich Ihr sprachlos zu,
Und rauschte mit den Rosenbändern:
Da wachte Sie vom Schlummer auf.
Sie sah mich an; Ihr Leben hing
Mit diesem Blick an meinem Leben,
Und um uns ward’s Elysium.“
Bei aller Subjektivität und gefühlsbetonter Ausdrucksweise übersehe man hier nicht ein raffiniertes Mittel künstlerischer Gestaltung: Klopstock verwendet hier in der Gestaltung der Strophen eine Kreuzstruktur, die sich in dem Perspektivwechsel offenbart: In den Strophen 1 und 3 dominiert das lyrische Subjekt, hier der aktive verliebte junge Mann, in den Strophen 2 und 4 die passive geliebte Person.
Die Eheschließung Klopstocks erfolgt nun aber nicht mit der jungen Maria, sondern später mit Margaretha Moller, die er in Hamburg kennen lernt, auf dem Weg nach Kopenhagen, wohin ihn ein Ruf des dänischen Königs zieht, der ihm ein sicheres Einkommen verschafft. Das Bemerkenswerte an der Ehe mit der Hamburgerin ist deren rege Anteilnahme an der weiteren Arbeit des „Messias“, wobei eine aktive Mitwirkung der gebildeten und klugen Ehefrau nicht auszuschließen ist. Ihre Würdigung erfolgt in beeindruckender Weise nach ihrem Tod. Margaretha stirbt nach vier Jahren Ehe im Kindbett.
Von einer Schreibblockade nach dem ihn erschütternden Tod der Ehefrau zu sprechen, wäre vermutlich übertrieben, doch eine Leidensphase erlebt der mittlerweile berühmte Dichter, für den die Stilrichtung der Empfindsamkeit mittlerweile zu einem deutschen Alleinstellungsmerkmal zu werden beginnt (In England kann dies der berühmte und richtungweisende Samuel Richardson für sich in Anspruch nehmen). Klopstock kehrt für einige Zeit aus Kopenhagen nach Quedlinburg zu seiner mittlerweile verwitweten Mutter zurück, die Mühe hat, ihre jüngeren Kinder angemessen zu versorgen, und dabei dankbar die Unterstützung des ältesten Sohnes annimmt.
Spätestens an dieser Stelle soll gern auf die fulminante neue Biographie hingewiesen werden, die der Bielefelder Germanist Kai Kauffmann erst in diesem Jahr veröffentlicht hat und die schon in dritter Auflage erschienen ist (Kai Kauffmann: Klopstock! Eine Biographie, 3. Auflage, Göttingen 2024). Kauffmann gelingt es, auf der Basis profunder Kenntnisse der Lebenswelt Klopstocks eine die germanistische Fachwelt beeindruckende, aber auch eine breite Leserschaft ansprechende literarische Wiederentdeckung des Dichters und der Literatur des 18. Jahrhunderts zu verfassen.
Ja, und ein interpretierendes Wort zu dem Ausrufezeichen hinter dem Titel muss hier unbedingt eingefügt werden. Das Satzzeichen ist es, das hier den Dichter Klopstock adelt! In Goethes „Leiden des jungen Werthers“ heißt es in einem der vielen stimmungsvollen Bekenntnisse des unglücklich Verliebten:
„Sie stand auf ihrem Ellenbogen
gestützt, und ihr Blick durchdrang die Gegend,
sie sah gen Himmel und auf mich,
ich sah ihr Auge tränenvoll,
sie legte die Hand auf
die meinige und sagte – Klopstock!
Ich versank in dem Strome
von Empfindungen, den sie
in dieser Losung über mich ausgoss …“
Nun mag der von ungezügelten Gefühlen getragene Stil des zwanzigjährigen Goethe, (der später verlegen auf Distanz zu seinem Frühwerk ging) schon für sich ein Exempel empfindsamer Prosa sein; die namentliche Erwähnung Klopstocks beweist ohne Zweifel die Massenwirkung, die der Dichter vor und nach 1774 im deutschen Sprachraum gehabt haben muss. Gleiches galt natürlich bald darauf für den Autor des berühmten Briefromans …
Wenn hier auf die Bedeutung des Hauptwerkes Klopstocks, des großen religiösen Versepos „Messias“ nicht im Detail eingegangen wird, dann deshalb, weil hier der literaturgeschichtliche Stellenwert sicher größer ist als die Chance auf Vermittelbarkeit an beispielsweise Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe. Sie kann man, wenn man optimistisch und pädagogisch ambitioniert ist, vielleicht aber mit den Oden und der unverwechselbaren Liebes- und Empfindungslyrik Friedrich Gottlieb Klopstocks gewinnen. Deswegen hier noch ein letztes Zeugnis, das die Abkehr des Dichters von frühaufklärerischen strengen formalen Vorgaben zeigt wie Reimschema oder Versmaß:
„Die frühen Gräber
Willkommen, o silberner Mond,
Schöner, stiller Gefährt der Nacht!
Du entfliehst? Eile nicht, bleib,
Gedankenfreund!
Sehet, er bleibt,
das Gewölk wallte nur hin.
Des Maies Erwachen ist nur
Schöner noch, wie die Sommernacht,
Wenn ihm Tau, hell wie Licht,
aus der Locke träuft,
Und zu dem Hügel herauf
rötlich er kömmt.
Ihr Edleren, ach es bewächst
Eure Male schon ernstes Moos!
O wie war glücklich ich,
als ich noch mit euch
sah sich röten den Tag
schimmern die Nacht.“
Klopstocks Grab findet man noch heute im Hamburger Stadtteil Ottensen, wo der Dichter der Empfindsamkeit unter großer Anteilnahme trauernder Menschen nicht nur aus der Hansestadt beerdigt wurde.