PROFIL: Im Fokus der Öffentlichkeit und der Schulpolitik steht nach der jüngsten PISA Studie die Notwendigkeit, in den Kernfächern der Grundschule zu handeln und die Schülerschaft zu mehr und wirksameren Übungsleistungen zu bringen. Im Fach Deutsch zeigen sich erste Erfolge, besonders in Hamburg und in Baden-Württemberg. Stichwort: Lesebänder. Schwieriger gestalten sich notwendige Maßnahmen in Mathematik. Warum gibt es hier so großen Handlungsbedarf?
Prof. Dr. Olaf Köller: Wir haben tatsächlich diesen großen Fokus auf sprachliche Kompetenzen. Hierbei gibt es 2015, als die Lesebänder eingeführt wurden, viel Erfahrung. Wir wissen, dass die Lesebänder sehr schnell die Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern, sprich die Leseflüssigkeit steigern, mit großem Effekten, und wenn man nachhaltig übt, bleiben diese Effekte auch bestehen.
Und in der Mathematik gibt es ja auch schon seit einiger Zeit Programme wie „Mathe macht stark“ in Schleswig-Holstein, auch hier am IPN entwickelt, mit „Mathe sicher können“ an der TU Dortmund, wobei „Mathe macht stark“ auch nach Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg exportiert wurde, aber die Programme sind noch nicht weit genug in die Fläche gekommen, und wir sehen auch noch nicht die ganz großen Erfolge wie bei den Lesebändern. Das hat viele Gründe: Die jetzigen Förderprogramme sind typischerweise unterrichtsintegriert, das heißt, sie beschränken sich auf den Mathematikunterricht, während die Stärkung der Lesebänder ist, dass sie in jedem Fach durchgeführt werden, das heißt, wenn das Leseband funktioniert, wird es fünfmal die Woche ergänzend zum Deutschunterricht durchgeführt. Das sind 100 Minuten zusätzliche Lesezeit für die Schülerinnen und Schüler, da an jedem Wochentag einmal die Glocke läutet – außer im Sportunterricht.
In der Mathematik geht es zwar auch um die Förderung der Basiskompetenzen, es geht um arithmetische Kompetenzen und mathematisches Verständnis, aber es ist keine zusätzliche Lernzeit, die geboten wird. Für schwache Schülerinnen und Schüler ist das zu wenig, und wir haben vielleicht auch noch nicht das Bewusstsein in der Mathematik, dass man zusätzliche Zeit zur Verfügung stellen muss.
Welche Voraussetzungen müssen denn am Ende der Grundschulzeit erfüllt sein, damit der Anschluss an den weiterführenden Schulen gelingt?
Olaf Köller: Es geht in der Mathematik darum, dass das technische Arbeiten, das heißt die arithmetischen Kompetenzen, sitzen, also die Addition, die Subtraktion, die Multiplikation und die Division. Es geht aber auch um das mathematische Verständnis. Als Beispiele sind hier die Stellenwerttafel oder die Erkenntnis, dass Zahlen zerlegbar sind, zu nennen. Dies geht über die reinen Rechenvorgänge hinaus und führt dazu, dass Kinder in die Phase der Beurteilung von Ergebnissen kommen.
Sie loben das in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz in den ersten beiden Grundschuljahren praktizierte Programm „Mathe macht stark“. Wie funktioniert dies, wo stößt es an seine Grenzen?
Köller: Das Schöne an „Mathe macht stark“ ist, dass es in Bausteine und Fördereinheiten gegliedert ist und am Ende jeder Fördereinheit eine Überprüfung, das heißt eine Lernstandserhebung, erfolgt. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schülerinnen und Schüler den entsprechenden Baustein wirklich verstanden haben. Für den weiteren Erfolg im Fach Mathematik ist dieser erfolgreiche Lernprozess wichtig, damit der nächste Baustein verstanden werden kann. Erst wenn das Verständnis als gesichert gelten kann, kann auch weitergelernt werden. Das ist die Stärke von „Mathe macht stark“, weil sie ganz systematisch neues Wissen auf vorher erworbenem Wissen aufbaut. Also eine Kombination von Diagnose und Förderung!
Die Wirksamkeit dieses Verfahrens ist durch wissenschaftliche Begleitung am Kieler IPN nachgewiesen, auch wenn diese noch nicht so hoch ist wie beispielsweise bei den Lesebändern. Möglicherweise ist bei „Mathe macht stark“ die Dosis noch nicht so hoch, weil dieses Programm nur unterrichtsintegriert abläuft. Vieles spricht dafür, dass gerade für die schwächeren Schülerinnen und Schüler auch additive Förderung außerhalb des regulären Fachunterrichts benötigt wird.
Fordern Sie bzw. die SWK ganz konkret auch eine Ausweitung des regulären Deutsch- und Mathematikunterrichts in der Grundschule und möglicherweise auch in der Orientierungsstufe?
Köller: Ja, Schleswig-Holstein hat dies schon gemacht. Man muss immer abwägen, ob man die Stundentafel erhöht, was auf Widerstand bei den Eltern stoßen könnte, oder führt man zusätzliche Stunden für die Basisfächer ein – auf Kosten anderer Fächer. Hier kämen die musisch-ästhetischen Fächer, Fremdsprachen in der Grundschule oder der Sachunterricht in Frage. In Bezug auf Englisch könnte man die Frage stellen, ob Fremdsprachenunterricht in den Klassen 1 und 2 notwendig ist.
Wissenschaftlich evident ist beispielsweise, dass zur Erreichung der Bildungsstandards am Ende der Klasse 10 auch ein Englischunterricht reicht, der erst in Klasse 5 beginnt.
Welche Voraussetzungen müssen auf Seiten der Mathematik unterrichtenden Lehrkräfte erfüllt sein? Konkreter: Wie kann man die Diagnosefähigkeit der Mathematik-Lehrkräfte noch stärken?
Köller: Wer Mathematik nicht als Studienfach belegt hat, sollte gern einige Module belegt haben, in denen er oder sie nachweist, dass er oder sie die Mathematik und Mathematikdidaktik hinreichend beherrscht, um einen lernfördernden Unterricht zu erteilen. Wichtig ist, die Lehrkräfte davon zu überzeugen, dass man sicherstellen muss, dass die Basiskompetenzen, ob in Deutsch oder in Mathematik, auch beherrscht werden. Hier gilt: Die Pflicht muss vor der Kür kommen!
Hier gibt es – zugegeben – auch verständliche Widerstände auf Seiten der Lehrkräfte, wo wir Überzeugungsarbeit leisten müssen. Es geht darum, die zu hohe Zahl von Viertklässlern zu senken, die am Ende der Grundschulzeit die Voraussetzungen für den Besuch weiterführender Schule nicht erworben haben. Für die aufnehmenden Schulen, auch für die Gymnasien gilt: Auch sie müssen die Basiskompetenzen sichern, da, wenn dies nicht geschieht, nur eine Kumulation von Lerndefiziten erfolgt, nicht aber ein auf Basisfähigkeiten aufbauender Erkenntnisgewinn. Das gilt nicht nur für Mathematik.
Können digitale Angebote helfen, und wenn ja, wie weit?
Köller: Ja, digitale Angebote können helfen, vor allem als additive Lerngelegenheiten. Es ist aber wichtig, dass die Lehrkräfte selber kompetent in der Anwendung dieser Mittel sind und dass sie sie gezielt einsetzen, sowohl als Diagnose- als auch Förderinstrument.
Hier können gerade die Basiskompetenzen sehr gut geübt werden. Allerdings darf den Schülerinnen und Schülern die Software nicht nur zur Verfügung gestellt werden mit der Maßgabe „Nun macht mal!“ Die Programme bieten aber den Lehrkräften die Möglichkeit des Monitorings, das heißt die genaue Zuweisung der Übungsmöglichkeiten durch die Lehrkraft. Hier gibt es das Angebot des individualisierten Förderns inklusive Lernstandserhebung und auf die Schülerfähigkeiten zugeschnittene Aufgabenstellung. Es kann jederzeit kontrolliert werden, ob der Schüler oder die Schülerin an dem Programm arbeitet oder nicht.
Zum Schluss noch ein Worst-Case-Szenario bitte: Was passiert, wenn die schulpolitisch Verantwortlichen vor dem Problem die Augen verschließen und nichts unternehmen?
Köller: Die Anteile der Risikogruppen unserer Schülerinnen und Schüler sind schon jetzt viel zu hoch. Sie werden weiter steigen. PISA 2022 wies 29,5 % Risikoschüler im Bereich der Mathematik auf, wobei die ukrainischen Kinder noch gar nicht berücksichtigt werden konnten. Auch aus Gründen der zu erwartenden demographischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass ohne die erforderlichen Fördermaßnahmen die Zahl der Risikoschülerinnen und -schüler weiter steigt, wenn auch der prozentuale Anteil der Kinder und Jugendlichen aus bildungsferneren Schichten zunimmt.
Auch der Ausbildungsmarkt zeigt: Wir haben schon jetzt zu viele Schulabgänger, die weder für einen Ausbildungsplatz noch für ein duales Studium geeignet sind, weil sie über erhebliche Kompetenzdefizite verfügen.
Das ist ein Faktor, der noch gar nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist: Fachkräftemangel auch als Folge der Bildungsmisere.
Herr Professor Köller, hoffen wir, dass die Zeit noch zum Gegensteuern reicht! Wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch.
Mit Prof. Dr. Olaf Köller sprach Walter Tetzloff