„Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“

    von Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands (DPhV)

    Ich habe diese Frage Friedrich Schleiermachers, was die ältere Generation mit der jüngeren will, immer als Aufgabenbestimmung der älteren Generation für die jüngere gelesen. In diesem Sinne antworte ich, wenn über die „schlechten Rechtschreibkenntnisse der Jugend“ gesprochen wird.

    Ich erhalte zahlreiche Rückmeldungen von unseren Lehrkräften und aus den Universitäten, dass es um die Rechtschreibkenntnisse der deutschen Schülerinnen und Schüler oft dramatisch schlecht bestellt sei – weit schlechter als in früheren Jahren. Wenn jemand nicht weitgehend fehlerfrei schreiben kann, ist seine Fähigkeit, ein Studium gut zu absolvieren, eingeschränkt. Fehlende Kenntnisse der deutschen Sprache schaden ebenso den Schulabgängern in einer Lehre. Ganz gleich ob jemand Ingenieurin, Lehrer oder Elektriker werden will: Der Sinn der Rechtschreibung besteht darin, dass Kommunikation auch wirklich gelingt. Das Ziel der Schule generell muss sein, dass Menschen kompetent und sicher am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Das Bundesverfassungsgericht schreibt in einem Urteil des Ersten Senats vom November 2023: „Die Aufgabe der schulischen Vermittlung von Rechtschreibregeln und deren Bewertung hat sich durch die Entwicklung selbstlernender Rechtschreibprogramme nicht überholt“ (S. 25/38, Abs. 84).

    Ein sorgfältiger Umgang mit der eigenen Sprache zeugt von Wertschätzung und Respekt gegenüber den Menschen, mit denen man kommuniziert. Wenn die ältere Generation im Sinne Schleiermachers „zum Guten erziehen“ will, wenn sie will, dass der intergenerationelle Dialog gut gelingt, dass die Schülerinnen und Schüler das notwendige Rüstzeug für die Gestaltung ihrer eigenen und gesellschaftlichen Zukunft bekommen, muss sie, müssen die amtierenden Bildungspolitikerinnen und -politiker im Interesse einer souveränen Beherrschung der deutschen Sprache von den Schülerinnen und Schülern umsteuern. Das ist ihre politische Aufgabe, das ist unsere Aufgabe, dafür können wir nicht die jüngere Generation verantwortlich machen.

    In den Lehrplänen ist mittlerweile in allen Schularten zu wenig Zeit zum Einüben von Rechtschreibung, Kommasetzung und Grammatik vorgesehen. Nicht nur in den Grundschulen, sondern auch in den weiterführenden Schulen, im Gymnasium brauchen wir in den fünften bis zehnten Klassen eine Stunde mehr Deutschunterricht, in jedem Falle vier Stunden pro Woche als Basis. Zudem müssen Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik bei der Leistungsbeurteilung eine relevante Rolle spielen, denn wenn die Anreize wegfallen, das richtige Schreiben zu üben, schleifen sich Fehler dauerhaft ein.

    Gerade in der Mittelstufe brauchen wir mehr Zeit, um uns mit der Klasse intensiv mit Lektüren zu beschäftigen. Wer in diesem Alter ausreichend viel liest, entwickelt ein besseres Gefühl für Sprache und trainiert die eigene Vorstellungskraft, auch im Sinne einer „Resilienz“ gegenüber zahlreichen Fremdbestimmungsangeboten von außen. Wer nur noch auf Außenreize reagiert – den Clip im Internet, die Animation im Computerspiel –, dem droht die Verarmung seiner Phantasie.

    Das kann der älteren Generation in ihrer Verantwortung für die jüngere nicht egal sein. Und die jüngere kann dies nicht für sich selbst leisten, das müssen wir für sie tun. Auch deshalb sollten wir bildungspolitisch nicht vor dem schulischen Anspruch an eine souveräne Beherrschung der Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik der deutschen Sprache von unseren Schülerinnen und Schülern kapitulieren.

    Der Text erschien ursprünglich – in leicht abgewandelter Form – in PROFIL, der Mitgliederzeitschrift des DPhV.

    Hier geht es zur gesamten Ausgabe: https://www.profil-dphv.de/#magazin

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