PROFIL-Besuch im Hamburger Christianeum
von Karoline Pajdak
Hamburg – Dass sich hier etwas Besonderes verbirgt, verrät schon das Gebäude. Lang und flach zieht sich der Bau des dänischen Architektur-Genies Arne Jacobsen (1902 – 1971) durch den Hamburger Westen. Schmale Stützen tragen ebenso schmale Betonbalken, an denen Außen- und Innenwände so funktional eingehängt sind, dass man Teil für Teil versetzen könnte, wenn man denn wollte. Beton, Glas und ganz viel Bildung. Wer hier seine Kinder zur Schule schickt, der hat nicht den Zufall entscheiden lassen, sondern sich bewusst für das Christianeum, eines von vier humanistischen Gymnasien in der Hansestadt, entschieden. Der moderne Bau – er steht dabei ein bisschen im Gegensatz zu dem, was das humanistische Gymnasium inhaltlich bietet: Latein für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend ab Klasse 5, Altgriechisch ab Klasse 8, moderne Fremdsprachen wie Französisch oder Spanisch aber erst ab Klasse 10. Oder ist das doch kein Gegensatz? Wie modern kann ein humanistisches Gymnasium, das verpflichtend angeblich „tote” Sprachen lehrt, eigentlich sein? „Sehr modern”, sagt Schulleiter Stefan Prigge (64, Lehrer für Biologie und Geschichte) mit aller Entschiedenheit. „Wir sind zwar ein altsprachliches Gymnasium, wir sind aber auch ein humanistisches Gymnasium. Der Humanismus stellt den Menschen und dessen Entwicklung in den Mittelpunkt. Schule als Gemeinschaft zu erleben und die Chance zu bekommen, seine eigenen Talente umfassend ausbilden zu können, das ist der Kern des Humanismus“, stellt er klar. Die Altsprachlichkeit spielt dabei eine große Rolle, auch auf dem Weg dahin, dass Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Fähigkeiten entdecken und ausbauen. „Uns geht es darum, Abiturientinnen und Abiturienten von der Schule zu verabschieden, die fest im Leben stehen, die ihren Standpunkt vertreten können, ohne sich von Meinungsmache überfahren zu lassen, die ihren Platz im Leben sehen und einnehmen.“
Meinung wird viel zu oft mit Wissen gleichgesetzt
Modern? „Lebensnotwendig“ nennt Stefan Prigge das, was das Christianeum seinen Schülerinnen und Schülern vermittelt – „gerade in diesen Zeiten“, fügt er hinzu. Denn Meinung werde heute allzu oft mit Wissen gleichgesetzt. „Hier hilft nur Bildung.“
In der weitläufigen Empfangshalle hängen Buchtipps („Der Tag, an dem ich sterben sollte – Wie der Terror in Hanau mein Leben für immer verändert hat“), Diskussionsbeiträge aus verschiedenen Medien, ein Ministeriums-Statement. In der Aula probt gerade die Theater-AG, auf der Bühne steht ein Steinway-Flügel bereit. Fast 1100 Schülerinnen und Schüler werden in diesem modernen Gebäude auf das Abitur vor bereitet, fast 100 Lehrkräfte sind im Einsatz. In der 5. Klasse lernen die Schülerinnen und Schüler Englisch und Latein, in der 8. Klasse kommt Alt-Griechisch oder Russisch dazu.
„Wir haben hier einen gewissen Anspruch an das Erlernen der dritten Fremdsprache, den wir halten wollen“, erklärt der stellvertretende Schulleiter Julius Jung (42, Lehrer für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft). „Es muss verpflichtend eine Fremdsprache mit einem anderen Alphabet erlernt werden.“
„Latein ist einfach prägend“
Wenige Meter weiter bietet das Gymnasium Hochrad bilingualen Unterricht auf englisch sowie Abitur auf englisch an, noch ein paar Meter weiter macht das Gymnasium Othmarschen das gleiche Angebot mit Französisch. Wo sieht der Schulleiter seine Schülerinnen und Schüler da in einer immer internationaler werdenden Welt? „Ganz weit vorn“, lautet seine entschiedene Antwort. Das Christianeum bietet Spanisch und Französisch ab Klasse 10 an, auch Chinesisch und der Besuch der Italienisch-AG sind möglich. Stefan Prigge: „Wir können deutlich sehen, dass unsere Schülerinnen und Schüler in drei Jahren Spanisch- oder Französisch-Unterricht Ergebnisse erzielen, die sonst in fünf Jahren erzielt werden. Da ist Latein einfach prägend.“ Auch der Alt-Griechisch-Unterricht werde oft von außen falsch interpretiert, merkt Prigge an. „Es geht nicht darum, eine weitere klassische Sprache zu lernen, sondern der Alt-Griechisch-Unterricht ist zu einem großen Teil auch Philosophie-Unterricht, das Ich steht hier im Mittelpunkt, der Blick über den Tellerrand, die Auseinandersetzung mit der eigenen Stellung in der Welt.“
Musik verbindet
Einen ganz besonderen Zusammenhalt erleben die Schülerinnen und Schüler durch die Musik. In der 5. und 6. Klasse ist eine Teilnahme im Schulchor verpflichtend, aber auch später bleiben viele von ihnen dabei. Das Highlight: das jährliche Weihnachtskonzert in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis, an dem fast 800 Schülerinnen und Schüler mitwirken. Auch hier geht es um mehr als um Musik und Zusammenhalt. Prigge: „Es geht um ein Maß an Konzentration, was die Schülerinnen und Schüler dort aufbringen, was sie anschließend in jeden einzelnen Kurs tragen.“ Auch das Schulorchester erfreut sich großer Beliebtheit. Auch hier das Ziel: Talente entdecken, fördern, Vielfalt gewährleisten.
„Wir wollen in der Oberstufe so viele Kurse wie möglich anbieten und den Schülerinnen und Schülern ein so breites Angebot wie möglich zu machen“, erklärt der Schulleiter. „Sie können aus zwölf verschiedenen Prüfungsfächern wählen, viele Profile sind doppelt – Kunst oder Musik, Latein oder Griechisch. Das bündelt hier viele Kräfte, aber wir möchten, dass die Schülerinnen und Schüler sich so passend wie möglich entwickeln können.“ Genauso gibt es Profile in Informatik, Wirtschaft, Chemie und Physik. Prigge: „Diese Fächer fordern, dass viel gelernt und zusätzlich gemacht wird. Leistung ist an dieser Schule etwas Erstrebenswertes. Wer zu uns kommt, braucht Leistungsbereitschaft und das leben wir auch.“
Nicht alle Gymnasien über einen Kamm scheren
Von der Politik würde sich das Leitungsteam des Christianeums manchmal etwas mehr Unterstützung erhoffen. „Es wird an Gymnasien im Allgemeinen gedacht, aber nicht an die humanistische Form. Unsere Stundentafel ist schon aufgrund unserer Altsprachlichkeit voll, wir haben nicht so viel Spielraum wie ein neusprachliches Gymnasium. Wir müssen unsere besondere Position immer wieder deutlich machen“, erklärt Julius Jung. Ein Beispiel gibt Stefan Prigge: „Das Latinum wurde in den vergangenen 20 Jahren immer weiter abgewertet. Auch das Fach Griechisch wird immer kleiner geschrieben. Ich würde mir wünschen, dass wir hier gegensteuern. Schulen mit besonderem Profil haben andere Bedarfe und können nicht mit anderen Gymnasien über einen Kamm geschoren werden. Das muss auch die KMK berücksichtigen.“
Wie sieht sie nun aus, die Zukunft des humanistischen Gymnasiums? Das Leitungsteam des Christianeums ist sich sicher: Der grundlegende Gedanke des Humanismus ist ein zeitloser. „Und den möchten wir in einer Zeit, die von starken Umwälzungen geprägt ist, unbedingt erhalten“, erklärt Julius Jung. „Das Christianeum ist ein Leuchtturm in der Bildungslandschaft und soll das genauso in 15 Jahren noch sein.“ Und modern? Modern kann ein humanistisches Gymnasium durchaus sein. Wie klug, dass sich die Schule dazu bereits das passende Motto ausgesucht hat: „Christianeum – Tradition im Aufbruch“.