SWK-Co-Vorsitzende Prof. Dr. Felicitas Thiel: „Wir müssen gemeinsam über sehr unpopuläre Maßnahmen nachdenken“

    Felicitas Thiel (62) ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung. Seit 2021 ist sie neben Olaf Köller Vorsitzende der SWK der KMK. Foto: Janetzko/SWK.

    Felicitas Thiel (62) ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung. Seit 2021 ist sie neben Olaf Köller Vorsitzende der SWK der KMK. Foto: Janetzko/SWK.

    Von Karolina Pajdak

    Berlin – Sie ist die Frau an der Spitze der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz. Im Januar sorgte Prof. Dr. Felicitas Thiel (62) für Schlagzeilen, als die SWK ihre Stellungnahme zum Lehrkräftemangel abgegeben hatte, die nicht nur vom Philologenverband kritisiert wurde. Im Interview mit PROFIL spricht die Erziehungswissenschaftlerin über von der Politik geplante Maßnahmen wie weniger Teilzeit für Lehrkräfte, mehr Teamarbeit an Schulen und über das, was in den kommenden Jahren auf Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler und Eltern voraussichtlich zukommt.

    PROFIL: Prof. Dr. Thiel, Sie sind die offizielle Beraterin der Kultusministerkonferenz. Was haben Eltern zu erwarten, die 2023 ihr Kind einschulen?

    Prof. Dr. Felicitas Thiel: Es erwartet sie ein drastischer Lehrkräftemangel. Und, wenn sie ihr Kind an einer Brennpunktschule einschulen, wird es nochmal schwieriger. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Kind von Bachelor-Studierenden oder Seiteneinsteigern unterrichtet wird, wie es in Berlin so häufig der Fall ist. Das ist insbesondere dann dramatisch, wenn das Kind zu Hause wenig Unterstützung erfährt. Lehrkräfte sind der wichtigste Erfolgsfaktor für die Schullaufbahn eines Kindes!

    PROFIL: Was haben Studierende zu erwarten, die sich 2023 für einen Lehramtsstudiengang entscheiden?

    Thiel: Leider sind es viel zu wenige, die sich 2023 dafür entscheiden, was vor allem an der Demographie liegt und nicht daran, dass das Studium unattraktiv ist. Was die Studierenden erwartet, ist von Hochschule zu Hochschule unterschiedlich. Aber ich sehe, dass wir beginnend mit der Einführung der Standards für die Lehrkräftebildung an den Hochschulen sehr viel verändert haben. Das gilt eher für die erste Phase als für die zweite. Wir haben nicht nur ein Praxissemester eingeführt, sondern auch Module neu gestrickt, sehr viel zu Diagnosekompetenzen eingeführt, Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften besser verschränkt. Ich denke, die Studierenden, die heute zu uns kommen, erwartet ein sehr viel besser auf professionelle Anforderungen ausgerichtetes Studium als die Studierenden zu meiner Zeit.

     

    „Auf Lehrkräfte kommen höhere Belastungen zu“

     

    PROFIL: Und was erwartet Lehrkräfte, die 2023 in der Mitte ihres Arbeitslebens stecken?

    Felicitas Thiel: Das kommt ganz drauf an, wo die Lehrkraft arbeitet. An einem Gymnasium in Berlin-Dahlem wird es nicht so schlecht sein, in einer Brennpunktschule sieht es da schon anders aus. Natürlich hat das auch etwas mit den Fächern zu tun. In Mangelfächern wird es auch für die Kolleginnen und Kollegen an Gymnasien sehr schwierig, weil auch dort in unteren Klassen immer mehr fachfremd unterrichtet wird. Grundsätzlich muss man aber sagen: Auf Lehrkräfte kommen höhere Belastungen zu. Und was haben sie auch schon geschultert, schauen wir nur einmal auf die vielen Geflüchteten aus der Ukraine, die neu an unsere Schulen gekommen sind!

    PROFIL: Der Lehrkräftemangel ist eines Ihrer wichtigsten Themen. Was machen wir, wenn wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen?

    Thiel: Ein Fünftel der Kinder kann nicht lesen und schreiben, geht aus dem Bildungstrend hervor und beherrscht die basalen Kompetenzen in der Mathematik nicht. Was das für die spätere Bildungslaufbahn bedeutet, ist klar, denn wir wissen, dass sich solche Defizite im Verlauf der Bildungskarriere noch verstärken. Das ist nicht nur ein Problem für das Kind, sondern für uns als Gesellschaft, denn es herrscht Fachkräftemangel. Gut ausgebildete Lehrkräfte sind der Schlüsselfaktor und, wenn diese Kinder nur durch Bachelor-Studierende oder Quer- und Seiteneinsteiger unterrichtet werden, hat das Konsequenzen.

    PROFIL: Im Januar hat die SWK eine vielbeachtete Stellungnahme zu dem Thema herausgegeben. Eine Lösung sieht die SWK in der Einschränkung von Teilzeit bei Lehrkräften. Schrecken Sie damit nicht künftige Lehrkräfte ab?

    Felicitas Thiel: Wir müssen auch über die positiven Seiten des Berufs sprechen – wie schön das ist, vor jungen Leuten zu stehen und sie in ihrer Entwicklung zu begleiten. Natürlich müssen wir den Beruf attraktiv halten und verbessern, aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir hier gemeinsam durch eine Durststrecke müssen. Wenn wir keine verlorene Generation erzeugen wollen, dann bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung.

    PROFIL: Ist Teilzeit also ein Problem?

    Thiel: Ja, wir haben in Deutschland ein Teilzeit-Problem. Wir haben viel höhere Teilzeitquoten als andere europäische Länder. Die SWK will nicht, dass alle Teilzeitkräfte Vollzeit arbeiten und wir wollen niemandem, der besonders belastet ist, eine Reduktion der Arbeitszeit verwehren, aber wir sehen auch einen hohen Anteil an Teilzeitkräften, bei denen man sagen kann: Wenn sie eine Stunde mehr unterrichten könnten, dann würde das im Großen und Ganzen schon richtig viel bringen. Auch für pensionierte Lehrkräfte muss es sich lohnen, weiter zu unterrichten. Da haben einige Bundesländer nun schon steuerliche Rahmenbedingungen verändert. Auch Vorgriffstunden sind ein Thema.

    PROFIL: Sie fordern viel!

    Thiel: Mein Anliegen ist ganz klar: Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder von Unqualifizierten unterrichtet werden. Aber ich will Lehrkräfte auch von Verwaltungsaufgaben entlasten, damit mehr Zeit für guten Unterricht ist. Wir müssen hier gemeinsam ran!

    PROFIL: Wie motivieren Sie junge Menschen dazu, den Beruf des Lehrers oder der Lehrerin ergreifen zu wollen?

    Thiel: Es ist einer der schönsten Berufe, die man sich vorstellen kann. Es ist doch sehr sinnstiftend, Lernfortschritte zu sehen, die Kinder zu begleiten. Und er genießt eine hohe Wertschätzung. Wir reden in diesen Wochen und Monaten so viel über Bildungspolitik wie schon sehr lange nicht mehr. Das macht mir Mut!

    PROFIL: Die SWK unterscheidet in ihrer Arbeit „Stellungnahmen“ und „Gutachten“ voneinander. Es ist ja sehr sinnvoll Stellungnahmen nach wissenschaftlichen Gutachten abzugeben. Im Januar haben Sie sich aber dazu entschieden, erst eine Stellungnahme zu Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel abzugeben und danach ein Gutachten zu erstellen. Warum?

    Thiel: Wir haben in der SWK drei verschiedene Formate der Politikberatung, die nicht aufeinander aufbauen. Stellungnahmen beziehen sich auf kurzfristige Anfragen, Gutachten sind umfangreiche Papiere, wo wir weitreichendere Expertisen für die Entwicklung des Systems abgeben, und dann gibt es noch Impulspapiere. Diese drei Formate funktionieren völlig unterschiedlich und es muss vor einer Stellungnahme kein Gutachten erstellt werden. Anfang 2024 soll es dann aber ein Gutachten zum Lehrkräftemangel geben.

    PROFIL: Die KMK hatte eigentlich einheitliche Standards für Quer- und Seiteneinstieg angekündigt. Warum wird das 2023 wieder nicht passieren?

    Thiel: Wir haben hier einen absoluten Flickenteppich vor uns liegen. Die einzelnen Modelle sind so unterschiedlich, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass man bei diesen Notmaßnahmen, die im Moment auch leider notwendig sind, einheitliche Standards festlegen kann. Wichtig ist es mir aber zu sagen: Es handelt sich hier um Notmaßnahmen und diese müssen auch wieder beendet werden. In den Grundschulen sehen wir schon langsam wieder Entspannung beim Lehrkräftebedarf.

    PROFIL: Stichwort Notmaßnahmen. Wie sehen Sie denn die Verbeamtung von Bachelor-Studierenden in Brandenburg?

    Thiel: Was in Brandenburg passiert, halte ich für schwierig. Ich hätte es anders gemacht und zunächst Aufgaben und Kompetenzprofile für Assistenzkräfte im Unterricht definiert und dann neue Laufbahnen entwickelt. Ich glaube, da müssen wir auch hin. Wir müssen Unterricht anders denken. Es muss nicht immer eine Lehrkraft alles machen. Wir brauchen Assistenten und Teams, in denen aber immer die qualifizierte Lehrkraft den Hut aufhat.

     

    „Unterricht muss völlig neu geplant und organisiert werden“

     

    PROFIL: Gibt es Modelle aus anderen Ländern, die Sie für erstrebenswert halten?

    Felicitas Thiel: Aber ja! Inverted Classroom ist eine Möglichkeit, die zum Beispiel in Dänemark viel eingesetzt wird. Das heißt, dass Schülerinnen und Schüler zu Hause mit Tutorials Unterrichtsthemen selbst vorbereiten und das Thema dann mit der Lehrkraft in der Klasse vertiefen. Wir brauchen in der gymnasialen Oberstufe auch mehr Selbstlernzeiten. Inzwischen haben wir ja auch viele digitale Tools, die wir noch gar nicht ausschöpfen. Unterricht muss völlig neu geplant und organisiert werden. Die Lehrkraft der Zukunft arbeitet im Team. Da können wir uns an der Medizin ein Beispiel nehmen: Die Pflegekräfte bereiten vor, sorgen vor und dann kommt der Arzt. Arbeitsteilung ist bei uns total verschrien, dabei ist das etwas Gutes, wenn man am Ende weiß, wer orchestriert.

    PROFIL: Schauen wir uns einmal Hamburg an. Die Lehrkräfte dort berichten kontinuierlich von schlechten Erfahrungen mit dem dortigen Arbeitszeitmodell. Ein Grund dafür sind die verrechneten, viel zu geringen Zeiten für die Korrekturen von Klausuren, die zu einer deutlichen Mehrbelastung führen. Der Philologenverband warnt davor, dass solche Arbeitszeitmodelle unter dem Vorwand, mehr „Gerechtigkeit“ für alle Lehrkräfte und für alle Lehrertätigkeiten zu schaffen, gerade in der konkreten Phase des Lehrkräftemangels politisch dazu genutzt werden, Lehrkräfte – durch „geschickte“ Anrechnungen von Tätigkeiten – höher zu belasten, um daraus mehr Unterricht für die Schüler zu generieren und damit dem Problem des Lehrkräftemangels zu begegnen. Wie sehen Sie das?

    Thiel: Grundsätzlich glaube ich, dass das Arbeitszeitmodell ein großer Fortschritt ist und das müssten doch auch Lehrkräfte so sehen, weil sie für das, was sie z.B. über den Unterricht hinaus machen, auch Zeit bekommen. Andere Länder haben dagegen ein System von Anrechnungsstunden, was häufig sehr intransparent ist.

    PROFIL: Sehen Sie es wie der Philologenverband, nämlich dass solche Vorschläge zu Lasten der Lehrkräfte in Zeiten des Lehrkräftemangels politisch funktionalisiert werden können?

    Thiel: Man hat doch ein klares Modell, wo einzelne Tätigkeiten beschrieben und mit einem Zeit-Budget versehen sind. Das finde ich erstmal gut. Über die einzelnen Budgets kann man ja sprechen. Für mich ist das der richtige Weg.

    PROFIL: Mittlerweile werden in den meisten Bundesländern alle Lehrkräfte für alle Schulformen gleich lang und wenig schulartspezifisch im Bachelor-Master-System ausgebildet. Der DPhV sieht das sehr kritisch. Wie stehen Sie dazu?

    Thiel: Die Grundschullehrkräfteausbildung ist ja klar getrennt. Ich war in Berlin in der Köller-Kommission, die sich das Berliner Modell angeschaut hat. Dort gibt es also eine gemeinsame Ausbildung von Gymnasiallehrkräften und Lehrkräften an Integrierten Sekundarschulen. Und wenn man so eine Schulreform macht, dann muss man auch dafür sorgen, dass die Lehrkräfte gleich qualifiziert sind. In Berlin haben wir aber gesehen, dass die Ansprüche, die an ISS-Lehrkräfte gestellt werden, im Studium nicht ausreichend berücksichtigt werden. Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.

     

    „Wer abgeordnet wird, darf keine laufbahnrechtlichen Einbußen hinnehmen müssen“

     

    PROFIL: In Thüringen werden Lehrkräfte vom Gymnasium abgezogen und an andere Schularten geschickt. Ist das denn erstrebenswert?

    Thiel: Ich halte das für notwendig, denn in einigen Bereichen gibt es einen Überhang an Gymnasiallehrkräften. Das kann man aber nur machen, wenn man den Lehrkräften eine ordentliche Perspektive anbietet. Wer abgeordnet wird, darf keine laufbahnrechtlichen Einbußen hinnehmen müssen und muss perspektivisch wieder an das Gymnasium zurückkehren können. Wir haben diesen Überhang. Wir haben eine Notsituation und wir müssen gemeinsam über sehr unpopuläre Maßnahmen nachdenken.

    PROFIL: Wie lange wird die Notsituation anhalten?

    Felicitas Thiel: Sie endet aller Voraussicht nach, wenn die heute Achtjährigen anfangen zu studieren.

    PROFIL: Der Philologenverband sieht die schulartunspezifische Ausbildung im BA/MA-System und auch die Stufenlehrerausbildung vor allem als politische – und keine wissenschaftlich gebotene – Maßnahme, damit Lehrkräfte angesichts von Lehrkräftemangel in die Schulart „verschoben“ werden können, wo gerade aktuelle „Not“ herrscht. Das ist unter Qualitätsgesichtspunkten falsch. Müssen wir dem Problem des Lehrkräftemangels nicht anders begegnen? Wie kommen wir aus dem „Schweinezyklus“ heraus?

    Thiel: Die Prognosen der KMK waren deutlich zu optimistisch, aber es gab auch einige Faktoren, die man nicht einplanen konnte – der Ukraine-Krieg etwa oder die Rückkehr von G8 zu G9. Die Prognosen sind immer nur so gut wie die Zahlen, die wir überhaupt haben können. Aber wir können das System flexibler bauen, zum Beispiel einen Anreiz für ein drittes Fach setzen und Wege für einen ordentlichen Quereinstieg anlegen. Es gibt noch so viel zu tun!

    PROFIL: Prof. Thiel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

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