Dr. Marcus Hahn ist Mitglied im Vorstand des DPhV und Landesvorsitzender des Saarländischen Philologenverbands. Foto: Marlene Gawrisch.
Von Dr. Marcus Hahn
Bereits seit geraumer Zeit orchestriert die nationale Presse eine „Bildungskrise“ in Deutschland, die zumeist an andere Krisen – Flüchtlinge, Corona, Digitalisierung, Ukraine etc. – angedockt wird. Dr. Sebastian Ostritsch hat dazu schon in der „Welt“ vom 16. Februar einen originellen Beitrag geliefert, den Profil in einer kürzeren Fassung in dieser Ausgabe abdruckt. Vier der fünf Gründe, die Ostritsch für seine Position anführt, sind ausdiskutiert – in Deutschland herrscht Schulpflicht, basta. Der fünfte Grund aber hat es in sich: Da der Staat an der Aufgabe scheitert, ein qualitativ überzeugendes Bildungssystem zu unterhalten, so das Argument, muss diese Aufgabe „liberalisiert“ werden können.
Die Stärke dieses Gedankens liegt darin, die Probleme in der Bildung nicht als Summe von Einzelfällen, sondern als Ausdruck einer generellen Überforderung zu verstehen. Das hilf- und teilweise auch planlose, jedenfalls mühselige und quälend langsame Agieren bei der Digitalisierung wäre ein Beispiel dafür. Vielleicht schafft es „unser“ Staat ja wirklich nicht, die Voraussetzungen für einen auf kluge Weise digital unterstützen Präsenzunterricht für alle Schüler zu schaffen – ganz gleich, ob ein Nachfolge-Digitalpakt ausbleibt oder doch noch kommt. Oder: Vielleicht wird „unser“ Staat es wirklich nie schaffen, eine halbwegs erträgliche Balance auf dem Lehrerarbeitsmarkt herbeizuführen. Und falls dem so ist: Vielleicht wäre ja „Liberalisierung“ tatsächlich eine sinnvolle Alternative. Bei der Unterhaltung des Autobahnnetzes geht der Bund ja schließlich ähnliche Wege. Und abgesehen davon spielen Privatschulen, obwohl überwiegend staatlich finanziert, seit jeher eine aktive Rolle als Ergänzung und pädagogische Alternative zum staatlichen Schulwesen.
Die Schwäche von Ostritschs Argumentation liegt darin, dass er zu früh falsch abbiegt. Es ist nicht einleuchtend, warum ausgerechnet im schulisch-unterrichtlichen Teil der Bildungsanstrengungen des Staates die Eltern ein überzeugendes Alternativangebot leisten können sollten. Viel eher wäre doch wohl darüber nachzudenken, ob der Staat sich in der Bildung nicht in anderen Bereichen mit den selbst gewählten Aufgaben überfordert. Tatsächlich resultieren manche Probleme, die der Autor als Indizien für ein „Scheitern“ des Staates in der Bildung ansieht, so z.B. „katastrophale soziale Zustände“, nicht in erster Linie aus dem Unterricht, sondern aus der Vielzahl von gesellschaftlichen und therapeutischen Aufgaben, die die Bildungspolitik den Schulen auferlegt hat. Hier die private Verantwortung zu stärken, eine sachgerechtere Arbeitsteilung mit Familien und nicht-staatlichen Akteuren zu fordern, wäre ein durchaus bedenkenswerter Vorschlag.
Allerdings kann man sich fragen, ob wir die von Ostritsch geforderte „Liberalisierung“ zumindest im Bereich der individuellen, defizitorientierten Förderung nicht längst bereits haben. De facto ist ein Teil der Unterrichtsleistung in Privatregie organisiert – z.B. vor allem durch kommerzielle Nachhilfe-Dienstleister, die Lerndefizite gegen Bezahlung zu beheben versprechen. Diese Lerndefizite sind zwar stets individuell, aber eben keine Einzelfälle, sondern Legion.
So betrachtet ist die von Ostritsch geforderte „Liberalisierung“ schon Realität, nur eben in Form von Privatisierung. Und vielleicht ist das gar kein so schlechter Weg. Jüngst bekannte beispielsweise die KMK freimütig, dass mit den sogenannten Aufhol-Programmen nach Corona zwar Milliarden in die Bildungsapparate der Länder gepumpt wurden, dass aber über deren Wirksamkeit keine Erkenntnisse vorliegen. Was Wunder, erwiesen sich die Programme doch laut Feststellung des Bildungspolitischen Ausschusses des DPhV landauf landab mehr oder weniger als Rohrkrepierer. Was also wäre geschehen, wenn man flächendeckend – so wie das vereinzelt geschehen ist – bei der Aufarbeitung der Corona-Folgen die Expertise und die Manpower von kommerziellen Bildungsanbietern aktiviert hätte?
Kurz: Ostritschs Gedanke, die aktuellen und auf absehbare Zeit noch weiter bestehenden Probleme als Scheitern des Staates anzusehen, könnte einer zur Selbstkritik fähigen Bildungspolitik durchaus helfen. Bund, Länder und kommunale Sachkostenträger könnten sich selbstkritisch fragen, für welche der von ihnen pauschal den Schulen zugemessenen Aufgaben sie denn die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen in der Lage sind. Für den Rest starke Partner zu suchen, die qualitativ überzeugende Angebote liefern, wäre sicherlich eine bessere Herangehensweise als der Versuch, die Schulen zu einer „eierlegenden Wollmilchsau“ zu entwickeln.
Eine Chance könnte eine zur Selbstkritik fähige Bildungspolitik auch für ihre Aufsichtsfunktion sehen. Sie könnte die Realität anerkennen, die heute bereits in einem Nebeneinander von staatlichen und kommerziellen Bildungsanbietern sowie privat-familiären Initiativen besteht. Sie könnte Qualitätsstandards für die verschiedenen Bereiche und Aufgabenfelder entwickeln, die mehr beinhalten und verlässlicher sind als das übliche Kompetenz-Blabla. Begleitet von validen, objektiven und damit vergleichbaren Prüfungen unter staatlicher Aufsicht – und zwar auf insgesamt höherem Niveau – könnte man daraus sogar ein Qualitätsmerkmal (wieder-)gewinnen und dem unseligen Trend zur Simonie der Arbeits- und Lebenschancen in betrieblichen und sonstigen Auswahlverfahren entgegentreten.
Nun zeigt allerdings das oben gewählte Beispiel, dass mit einer Privatisierung (z.B. des Autobahnbetriebs) nicht alles von selbst gut wird. Das gilt schon gar nicht aus gewerkschaftlicher Perspektive. In der Regel nützt es den Bediensteten wenig, wenn sie aus einer Behörde in einen Monopolbetrieb outgesourct werden. Andererseits ist im Bildungsbereich unter den oben beschriebenen Voraussetzungen genau damit nicht zu rechnen. Ein Mehr an privater Initiative könnte auch zu einer größeren Vielfalt an Anbietern führen, die sich auch einen Wettbewerb um die besten Köpfe bei den Beschäftigten liefern. Womöglich könnten die Länder es sich als Ex-Bildungsmonopolisten dann nicht mehr ohne weiteres erlauben, die Arbeitsbedingungen ihrer Bediensteten so zu vernachlässigen, wie das gegenwärtig der Fall ist. Und womöglich liegt genau da auch der Grund dafür, warum Gedankenspiele wie die von Ostritsch beflissentlich ignoriert werden.