Niedersachsens Kultus-Chefin: Wie kann man Lehrkräfte in Vollzeit halten, Ministerin Hamburg?

    Die Ministerin gemeinsam mit niedersächsischen Schülerinnen und Schülern im Februar beim RoboCup in Hannover. (Foto: Nds. Kultusministerium)

    Von Karolina Pajdak 

    Hannover – Sie ist nicht “nur” Kultusministerin, sondern seit November vergangenen Jahres auch die stellvertretende Ministerpräsidentin von Niedersachsen. PROFIL traf Julia Willie Hamburg (36, Grüne) zum Interview. 

    PROFIL: Ministerin Hamburg, Sie haben Deutsche Philologie studiert und abgebrochen. Warum? 

    Julia Willie Hamburg: Ich habe gerne studiert – außer Deutsche Philologie übrigens auch Politikwissenschaften und Philosophie. Zugleich habe ich mich schon seit meiner Jugend und während des Studiums politisch sehr engagiert und Verantwortung übernommen. Ich kam als damals jüngste Abgeordnete in den niedersächsischen Landtag. Nach der Geburt meines zweiten Kindes und einer schweren Erkrankung habe ich das Studium nicht wieder aufgenommen und mich auf meine Arbeit als Landtagsabgeordnete konzentriert. Ich denke, mein bisheriger Weg ist ein gutes Beispiel dafür, dass Lebenswege und Bildungsbiografien nicht immer gradlinig verlaufen und wir aus gutem Grund von Kompetenzerwerb sprechen.  

    PROFIL: Der DPhV setzt sich für eine bessere Vergleichbarkeit des Abiturs auf höherem Niveau ein. Wir möchten, dass in allen Bundesländern möglichst viele Oberstufenkurse in die Abiturwertung eingebracht werden. Wie viele Kurse müssen in Niedersachsen zurzeit eingebracht werden? Wofür setzen Sie sich bei der KMK ein?    

    Ministerin Hamburg: Die persönliche Entwicklung und das Lernen sind ein immer fortwährender Prozess, der bei allen Kindern unterschiedlich verläuft. Diesem ganz natürlichen Prozess müssen wir Rechnung tragen und Schülerinnen wie Schüler bei ihrem eigenen Lerntempo unterstützen. Zurzeit sind in der gymnasialen Oberstufe in Niedersachsen gemäß unserer Prüfungsordnung mindestens 32 und höchstens 36 Schulhalbjahresergebnisse in die Gesamtqualifikation der Abiturprüfung einzubringen. In der Diskussion um eine Novelle der Oberstufen- und Abiturvereinbarung auf KMK-Ebene hat sich Niedersachsen bislang für eine Belegungsverpflichtung von 40 Schulhalbjahresergebnissen und eine Einbringungsverpflichtung von 36 Schulhalbjahresergebnissen ausgesprochen.  

    PROFIL: Wofür setzen Sie sich ein? 

    Hamburg: Ich setze mich derzeit dafür ein, dass zukunftsorientiertes Lernen und eine individuelle Vorbereitung für das private und berufliche Leben auch in der Oberstufe möglich sind. Auf der Ebene der KMK verhandeln die Länder gerade noch darüber, in welchem Umfang Unterrichtsvorhaben und Innovationen erprobt werden können. Es ist mir wichtig, den Schulen in Niedersachsen neben der bundesweiten Vergleichbarkeit eine möglichst große Flexibilität in der Gestaltung des Unterrichts zu ermöglichen. Nach dem Abitur gehen die jungen Menschen ins Studium, ich finde Konzepte sehr spannend, die in der Oberstufe diesen Übergang zur Eigenverantwortung noch stärker leben.  

    PROFIL: Die KMK ermöglicht es den Abiturientinnen und Abiturienten, durch sämtliche Basiskurse bspw. in Mathematik und Deutsch (Einbringung von 20% der Kurse unter 5 Punkten) in der Gymnasialen Oberstufe „durchzufallen“. Wie stehen Sie dazu?  

    Ministerin Hamburg: Diese Aussage ist so ja nicht korrekt. Von den einzubringenden Schulhalbjahresergebnissen aus der Qualifizierungsphase muss ein erheblicher Anteil der Schulhalbjahresergebnisse mindestens mit 5 Punkten in einfacher Bewertung erreicht worden sein – darunter mindestens 9 der 12 Schulhalbjahresergebnisse der Prüfungsfächer eins bis drei.  

    Für die Fächer Deutsch und Mathematik bedeutet das, dass – je nach Anzahl der einzubringenden Schulhalbjahresergebnisse – 5 bis 7 von 8 einzubringenden Schulhalbjahresergebnissen mit weniger als 5 Punkten bewertet sein dürfen – also nicht ‚sämtliche‘.  

    Wichtig ist mir hier aber auch die Feststellung, dass wir in Niedersachsen den Kernfächern Mathematik und Deutsch in der Qualifikationsphase grundsätzlich eine besondere Bedeutung beimessen. 

    Gleichzeitig haben hier für mich auch wieder die individuellen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Abiturientinnen und Abiturienten einen besonderen Stellenwert. Bei aller Vergleichbarkeit auf Bundesebene ist die Feststellung einer Hochschulreife auch dann gerechtfertigt, wenn das Interesse und die Begabung z.B. nicht vorrangig im mathematischen Bereich liegen.  

    Dass entsprechende Leistungen im Bereich Mathematik und Deutsch dennoch ausreichend gesichert sein müssen, steht aber natürlich außer Frage. 

    PROFIL: Stichwort Lehrkräftemangel! Die SWK der KMK schlägt die Erhöhung des Unterrichtsdeputats, die Erhöhung der Klassenfrequenzen und längeres Arbeiten vor. Was denken Sie, wie man Lehrkräfte mit solchen Empfehlungen überhaupt noch in Vollzeit halten kann? 

    Ministerin Hamburg: Die SWK hat noch einiges mehr vorgeschlagen als die von Ihnen genannten Punkte. Es ist nun unsere gemeinsame Aufgabe, sich mit den dargelegten Maßnahmen auseinanderzusetzen und sie auf ihre Konsequenzen und Auswirkungen in der Praxis hin zu betrachten. Gerade die Frage, wie wirken sich die Maßnahmen konkret auf Belastung und damit einhergehend die Beschäftigungssituation aus, war nicht Fokus der Studie, ist aber dennoch sehr relevant mitzudenken, wenn wir über die Umsetzung von Maßnahmen reden. Dennoch: Wir haben durch den Fachkräftemangel eine sehr herausfordernde Situation und es ist dem Autorenteam hoch anzurechnen, dass sie sich wissenschaftlich mit Blick auf die Auswirkungen auf den Bildungserfolg den Maßnahmen, die bundesweit immer wieder rauf und runter diskutiert werden, genähert haben. Dieses Wissen um die Wirkung von Maßnahmen ist wichtig. Und es gibt eben keine guten Entscheidungen, wenn wir über die Gestaltung des Mangels reden, sondern lediglich mehr oder weniger unbefriedigende und gangbare und weniger gangbare. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass wir eine Gestaltungsdebatte führen müssen, um einen Rahmen zu setzen und die Schulen mit der Gestaltung nicht alleine zu lassen. Deshalb habe ich die Verbände zu einem gemeinsamen Austausch eingeladen, um für Niedersachsen einen Umgang zu definieren. Wir werden Maßnahmen definieren müssen, um kurzfristig mit dem Fachkräftemangel umzugehen, aber auch langfristig für eine bessere Ausstattung der Schulen mit lehrendem und multiprofessionellem Personal zu sorgen.  

    PROFIL: Wie kann man junge Menschen, die vor der Berufswahl stehen, davon überzeugen, dass der Lehrberuf attraktiv ist?  

    Hamburg: Wir wissen, dass sich viele junge Leute dafür interessieren, Lehrerin oder Lehrer zu werden. Gerade in der Schlussphase ihrer Schulzeit wissen und spüren sie noch sehr deutlich, welche Lehrerin und welcher Lehrer sie besonders beeindruckt, geprägt und unterstützt hat und wollen das gerne weitergeben. Als Lehrkraft kann man jungen Menschen helfen, sich gut zu entwickeln und ihren selbstbestimmten Lebensweg zu finden. Wir sollten im eigenen Interesse gemeinsam darauf achten, die Fachkräfte- und Defizitdebatten zu führen und trotzdem den Beruf nicht immerzu schlecht und unattraktiv darzustellen, sondern auch die Stärken und Perspektiven aufzuzeigen. Natürlich macht jeder seinen Job dann gerne und besonders gut, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dass es hier hapert und wir zur Steigerung der Attraktivität des Lehrkräfteberufes einiges tun müssen, haben wir ja erkannt und arbeiten sehr intensiv daran.  Der Beruf der Lehrkraft ist gesellschaftlich unglaublich wichtig, deswegen setze ich mich für die Schule als attraktiven Arbeitsort und als lebendigen Lern- und Lebensort ein – und das müssen wir auch öffentlich immer deutlicher machen und auch die Stärken des Beamtentums und der Berufswahl Lehrkraft weiter nach vorne stellen.  

    PROFIL: Viele Lehrkräfte in Niedersachsen kennen noch verpflichtende Arbeitszeitkonten. Wäre dies erneut ein Modell für Niedersachsen? 

    Ministerin Hamburg: Niedersachsen hat sich in den letzten Jahren gegen die erneute Einführung eines verpflichtenden Arbeitszeitkontos entschieden und stattdessen jeder Lehrkraft die Möglichkeit eröffnet, ein freiwilliges Arbeits­zeitkonto anzulegen. Die jetzt dringend erforderliche und bereits angestoßene Gestaltungs­debatte habe ich genannt. Ich bitte um Verständnis, wenn ich der Diskussion hier nicht vorgreifen möchte. Wir werden mit den an Schule Beteiligten darüber reden, welche Wege wir gemeinsam gehen können.  

    PROFIL: Die KMK hat den Lehrkräftemangel über Jahrzehnte ignoriert oder schöngeredet. Auch wird ihr immer wieder vorgeworfen, sie könne nicht genügend Einigungen in zentralen Fragen herstellen. Halten Sie die KMK als gemeinsames Gremium der Bundesländer überhaupt noch für zeitgemäß?    

    Hamburg: Es ist ständige Aufgabe der Kultusministerinnen und Kultusminister und der Kultusministerkonferenz, Vorausberechnungen zum Lehrerbedarf und Lehrerangebot vorzunehmen, damit die Ausbildung von Lehrkräften dem sich ändernden Bedarf angepasst wird. Dies geschieht regelmäßig seit Beginn der Bildungsplanung Anfang der 1970er-Jahre. Auf den gegenwärtigen hohen Lehrereinstellungsbedarf und das hierfür nicht ausreichende Lehrerangebot hat die Kultusministerkonferenz regelmäßig in mehreren Berichten über den künftigen Lehrereinstellungsbedarf hingewiesen. Dieser Bericht wurde jährlich fortgeschrieben. In den Berichten werden auch aktuelle Themen wie die Migration infolge des Angriffskriegs auf die Ukraine und die Umsetzung des Ganztagsförderungsgesetzes berücksichtigt. Und nicht zuletzt die Implementierung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission bei der Kultusministerkonferenz und ihr gerade erst kürzlich vorgestelltes Gutachten zeigen, dass die Länder gute Bildung und insbesondere den akuten Lehrkräftemangel als große gemeinsame Herausforderung sehen und sie auch gemeinsam bearbeiten. Außerdem müssen und wollen und können wir die drängenden Themen nur gemeinsam lösen und das ist uns Kultusminister*innen bewusst. Ich habe dort ein gutes Gefühl, dass das gelingt und auch weiter gelingen kann. 

    PROFIL: Es ist in Niedersachsen geplant, Grundschullehrkräfte nach A13 zu besolden. Wird das alle Lehrkräfte im System betreffen oder betrifft diese Zusage nur Lehrkräfte, die nach GHR300 ausgebildet worden sind und ist somit an die gestiegenen Anforderungen in der Ausbildung geknüpft? 

    Ministerin Hamburg: Wir werden die Attraktivität des Lehrkräfteberufs steigern, indem wir schnellstmöglich das Einstiegsamt anheben. Auch für Lehrkräfte mit einer Lehrbefähigung für eines der bisherigen Lehrämter für den Bereich der Grund-, Haupt- und Realschulen ohne GHR300-Ausbildung soll das Einstiegsamt bzw. Entgelt auf A13/E13 TV-L angehoben werden.  

    PROFIL: Der Philologenverband Niedersachsen fordert seit Jahren eine Erhöhung der Bezüge von Anwärterinnen und Anwärtern des Lehramts um mindestens 30%. Ist es geplant, auch die Besoldung für Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst zu erhöhen, um mehr Studierende nach Niedersachsen zu holen?  

    Ministerin Hamburg: Es geht uns zunächst um die Anhebung der Besoldung für die Lehrkräfte mit dem Lehramt HR. Diese Lehrkräfte werden dringend gesucht, allerdings in allen 16 Ländern. Wir haben derzeit bis zum 31.07.2025 bereits geltende Anwärtersonderzuschläge für Anwärterinnen und Anwärter für das Lehramt an Haupt- und Realschulen sowie für das Lehramt für Sonderpädagogik. Diese beinhalten aufgrund des dort bestehenden erheblichen Mangels an hinreichend qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern einen Anwärtersonderzuschlag in Höhe von 20 Prozent. Dies entspricht monatlich je nach Lehramt etwa 290 bis 300 Euro zusätzlich. 

    PROFIL: Die Ausbildung an den Universitäten wird durch das MWK, die Ausbildung im Vorbereitungsdienst durch das MK verantwortet. Bisher war eine Zusammenarbeit eher sporadisch als gewollt. Wie kann eine deutlich bessere Verzahnung in der Lehrkräfteausbildung gelingen? 

    Hamburg: Im ersten Halbjahr 2018 haben die beiden Ministerien vereinbart, die langfristige Kapazitätsplanung der grundständigen Studiengänge der Lehrkräftebildung zu verbessern. Dazu haben sie eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich seitdem regelmäßig austauscht. Sie ermittelt die Bedarfe, die vorhandenen Studienplatzkapazitäten und deren Auslastung, setzt beide Faktoren in Beziehung und leitet daraus erforderliche Schlüsse zur Steuerung der Studienangebote ab. Die Strukturen und Steuerweisen in beiden Ministerien sind in Teilen unterschiedlich, darum sind Kommunikation und gemeinsame Ziele sehr wichtig. Daran wollen der Wissenschaftsminister und ich intensiv arbeiten und diese Zusammenarbeit weiter intensivieren. Ziel ist es, das Ausbildungsangebot noch schneller und effektiver an die Bedarfe anzupassen.  

    PROFIL: Der Philologenverband spricht sich für eine schulformbezogene Lehrerausbildung aus. Im Koalitionsvertrag ist eine stufenbezogene Lehrerausbildung angestrebt. Auf dem niedersächsischen Philologentag 2018 wurde ein „Grundsatzpapier zur Lehrkräfteausbildung“ verabschiedet. Es betrifft eine 21-monatige Lehrerausbildung, in der Lehrkräfte in einer dreimonatigen Einführungsphase sensibel an das Berufsfeld Schule herangeführt werden, erst dann startet die 18-monatige Qualifikationsphase. Was halten Sie davon?  

    Ministerin Hamburg: Grundsätzlich halte ich es für sehr wichtig, mehr Praxis- und Pädagogik-Anteile in der Lehrkräfteausbildung zu verankern – und zwar frühzeitig im Studium. Und es ist ja bereits geplant, in die Masterstudiengänge aller Fächer eine 18-wöchige Praxisphase einzuziehen, wie wir es bei den Lehrämtern für Grundschule sowie Haupt- und Realschule schon eingeführt haben. Die Absolventinnen und Absolventen einer solchen Praxisphase starten mit sehr viel mehr Erfahrungen und ohne einen sogenannten Praxisschock in Bezug auf das Berufsfeld Schule in den Vorbereitungsdienst. Eine dreimonatige vorgeschaltete Einführungsphase würde die Ausbildung insgesamt jedoch verlängern. Das wäre eine Kehrseite, die es zu bedenken gilt. Wir werden uns bei der Reform der Ausbildung viele Bausteine anschauen. Auch bspw. die Fragen Praxisbezug und -verzahnung, aber auch Self-Assessment und die frühe Auseinandersetzung mit der Frage, ist das der Beruf, in den ich streben will. Viele weitere Erkenntnisse aus der Bildungsforschung und die sich durch die Veränderung von Digitalität und mehr an Schule ergeben, gehören in die Lehrkräfteausbildung implementiert – ohne in einem riesigen Baukasten alles zu überfrachten. Es ist richtig, dass wir uns im Koalitionsvertrag auf eine grundlegende Reform der Lehrkräfteausbildung hin zu einer stufenbezogenen Ausbildung verständigt haben. Damit werden wir einerseits dem Anspruch gerecht, Schülerinnen und Schüler noch besser durch qualifizierte Fachkräfte individuell fördern zu können – unabhängig von ihrem Entwicklungs- und Leistungsstand. Zugleich erhöht sich so die Chance, Lehrkräfte in unterschiedlichen Schularten einzusetzen und so dem Lehrkräftemangel entgegenzuwirken. Übrigens haben wir ja bereits seit 2014 bei der Ausbildung für das Grundschullehramt einen reinen Stufenbezug. Ein Konzept, das sich bewährt hat – auch bei der Rekrutierung angehender Lehrkräfte. 

    Nach oben