PhV BW zum Beginn des Schuljahres 2022/2023: Viele Mängel, Unsicherheiten und offene Fragen, aber wenige Antworten – es sind dringend langfristige Konzepte nötig

    Der Landesvorsitzende des Philologenverbands Baden-Württemberg (PhV BW), Ralf Scholl, bewertet die angekündigten 500 zusätzlichen Lehrerstellen als dringend notwendigen ersten Schritt. Mindestens 2000 Stellen wären jedoch nötig gewesen:
    Allein für die Beschulung der 18.000 bis 30.000 ukrainischen Kinder und Jugendlichen (über die tatsächliche Zahl wird es erst nach der ersten Schulwoche Klarheit geben) sind 1200 bis 2000 zusätzliche Lehrerstellen nötig: Dies entspricht 1 Lehrer pro 15 Schüler. Zum Vergleich: Es gibt derzeit rund 100.000 Lehrerstellen für 1,5 Millionen Schüler in Baden-Württemberg.

    Die Lehrerversorgung in allen Schularten hat sich gegenüber dem letzten Schuljahr noch einmal massiv verschlechtert. Sämtliche Reserven sind bereits zum Schuljahresbeginn aktiviert. Die Lücken konnten nicht alle geschlossen werden, die Vertretungslisten sind weitgehend leer.
    Die meisten Lehrkräfte kommen aus den Sommerferien (vielfach nach überstandener Corona-Infektion) nur halb erholt an die Schulen zurück.

    Vor uns liegt ein heißer Corona-Herbst bzw. -Winter: Gerade, weil Corona jetzt als „endemisch“ betrachtet wird (wie die Grippe), ist zu befürchten, dass es eine oder gar mehrere Corona-Wellen mit sehr hohen Krankenständen geben wird. Corona ist ja mindestens 10-mal ansteckender als die Grippe!
    Da es keine Vertretungskräfte gibt, wird dies zu massiven Unterrichtsausfällen führen. Die Schulen wurden in keiner Weise auf das vorbereitet, was im Herbst/Winter vor ihnen liegt! Die „Lüftungsstrategie“ (jeweils nach 20 Minuten für 5 Minuten Stoßlüften) ist angesichts der geplanten Einsparungen beim Heizen ein schlechter Witz.

    „Dass das Kultusministerium (KM) auf neue Entwicklungen (Corona, Beschulung ukrainischer Kinder und Jugendlicher, Energiepreisexplosion) jeweils immer erst mit mehrmonatiger Verzögerung reagiert, ist wirklich nicht hilfreich“, kriti-siert Ralf Scholl.

    Die Corona-Lernlücken sind noch nicht geschlossen, wie die vorgestern veröffentlichte Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung und viele Rückmeldungen von Lehrkräften belegen. Dadurch hat die Heterogenität in den Klassen erheblich zugenommen.

    Das Thema der Sommerferien: Die Nicht-Bezahlung langfristig befristet beschäftigter Lehrkräfte in den Sommerferien
    Das Kultusministerium hat zwar schon 2021 die juristische Voraussetzung dafür geschaffen, dass befristet beschäftigte Lehrkräfte während der Sommerferien bezahlt werden können, die Regierungspräsidien nutzen diese Option aber nicht. Sie vermeiden sie sogar aktiv! Im größten Regierungspräsidium, Stuttgart (mit 1/3 aller Lehrerstellen im Land), wurden insgesamt nur vier befristete gymnasiale Lehrkräfte während der Ferien bezahlt – von über 200, mit denen mittlerweile Verträge ab dem ersten Schultag abgeschlossen wurden.
    Mit anderen Worten: Trotz der Beteuerungen der Kultusministerin hat sich an der Praxis der unbezahlten Sommerferien praktisch nichts geändert.

    An den Gymnasien gibt es im Kalenderjahr 2022 ein massives Problem mit den Regelbeförderungen: Nach dem Komplett-Ausfall des konventionellen Beförderungsverfahrens im Mai (Begründung: keine Lehrerstellen) gibt es jetzt für Oktober insgesamt nur 77 Beförderungsstellen für 7700 Studienräte am Gymnasium.  Das ist ein schlechter Witz.

    Die Stellvertretende PhV-Landesvorsitzende, Karin Fetzner, richtet den Blick auf das Thema neunjähriges Gymnasium (G9):
    Der PhV hat seit einem Jahr darauf gedrängt, dass das Kultusministerium Klarheit über die Fortsetzung des „Schulversuchs G9“ schafft. Karin Fetzner begrüßt, dass das KM den überaus beliebten G9-Schulen endlich die nötige Planungssicherheit gibt und damit zumindest in ihrem jeweiligen Einzugsbereich den Kindern die Wahlmöglichkeit bietet, sich an einem allgemeinbildenden Gymnasium zwischen einem acht- oder einem neunjährigen Weg zum Abitur zu entscheiden. „Diese Chancengleichheit ist leider nicht für alle Landeskinder gegeben, denn wer zu weit weg wohnt, hat Pech gehabt – Ende mit der Chancengerechtigkeit in der Bildung, die die Grünen in ihrem Programm immer für sich reklamieren“, so die Stellvertretende PhV-Landesvorsitzende.
    Allerdings ist aus Sicht des PhV die Verlängerung des „Schulversuchs G9“ lediglich eine Ventillösung, um die härteste Kritik am unbeliebten G8 abzufedern.
    Gerade nach Corona und im Zuge der Chancengerechtigkeit wäre eine G9-Möglichkeit an allen Gymnasien die richtige Reaktion auf die durch Corona entstandenen Lücken und die allgemeinen Probleme von G8, die auch 19 Jahre nach dem Start nicht ausgeräumt sind.

    Die zweite Stellvertretende PhV-Landesvorsitzende, Martina Scherer, greift das Thema „Wohlbefinden und Leistungsorientierung“ auf: „Wohlfühlen am Gymnasium – das können wir schon lange!“
    Eine gute Lernatmosphäre, eine gute Lernbeziehung und eine wertschätzende Atmosphäre zu schaffen, das ist seit Jahrzehnten ein Bestandteil des Lehrerberufs. „Die gymnasiale Lehrkräfteausbildung setzt auf Methodenvielfalt“, so Martina Scherer. „Eine persönliche Beziehung zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern wird nicht nur vom Klassenleitungsteam intendiert, und in praktisch allen Fächern wird viel Wert auf eigenständiges Arbeiten gelegt,“ ergänzt Martina Scherer. „Zur Sicherung der Bildungsqualität darf es aber trotzdem keine Abstriche am Niveau und an den geforderten Leistungen geben“, fordert sie.
    Die Lehrkräfte dürfen nicht weiter ausgepresst werden bis auf den letzten Tropfen, sondern es müssen auch deren Arbeitsbedingungen verbessert werden:
    Die Lehrkräfte brauchen vor allem eines: Mehr Zeit, um ihre selbstverständlich erlernte Methodenvielfalt und ihr pädagogisches Gespür in der individuellen Betreuung der Schülerinnen und Schüler einsetzen zu können. Auch möglichst kleine Klassen führen zu mehr Zeit für jeden einzelnen Schüler. Klassenlehrerstunden in allen Stufen wären dafür ebenfalls wichtig. G8 mit seinem engen Zeitkorsett steht dem aber entgegen.

    Abschließend geht Karin Fetzner auf den Schulversuch „Grundschule ohne Noten“ ein, an dem 37 Grundschulen teilnehmen, von denen aber nur deutlich weniger als die Hälfte vorher Noten in Klasse 3 und 4 vergeben haben. 21 Schulen aus der Teilnehmergruppe arbeiten schon seit Jahren mit Verbalbeurteilungen statt Noten.
    Deshalb hinterfragt sie die Auswahl dieser Grundschulen und fragt nach der adäquaten Kontrollgruppe mit Noten und der Durchführung der wissenschaftlichen Evaluation.
    – Wie ernsthaft ist bei dieser Auswahl der teilnehmenden Schulen dieser „Versuch“ überhaupt als solcher gemeint, oder ist es einfach ein plumper Start in die Art von „Schulentwicklung“, die politisch so gewollt wird?
    – Wer evaluiert hier wie? Nach welchen Kriterien? Wo ist die Parallelgruppe ähnlicher Schulen mit Noten als Vergleich?

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