„Es kann nicht sein, dass sich der Mathe-Kollege mit zwei Stunden Ermäßigung um die IT kümmern muss“: Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Philologenverbands, im Interview bei AixConcept

    KÖLN, den 7. Juni 2022. Der Deutsche Philologenverband hat auf seiner jüngsten Vertreterversammlung einen Grundsatzbeschluss zur Digitalisierung der Schulen gefällt. Darin heißt es unter anderem: „Ein verändertes Rezeptionsverhalten beim Medienkonsum und beim Wissenserwerb unserer Schülerinnen und Schüler erfordert neue Methoden und neue Fähigkeiten.“ Die Vorsitzende des Philologenverbands, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, sprach auf dem didacta-Stand von AixConcept – dem IT-Dienstleister für Schulen – über die Konsequenzen und die Perspektiven digitaler Bildung in Deutschland mit News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

    Susanne Lin-Klitzing erklärte dazu im Gespräch: „Mediale Darstellungsformen ändern sich – und das Medienkonsumverhalten der Schülerinnen und Schüler verändert sich dementsprechend: Im Alltagsleben dominieren der Konsum von und die Informationsentnahme aus Bildern und Videos gegenüber Texten, digitale Medien bieten häufig eine höhere Interaktivität zwischen ‚Anbieter‘ und ‚Nutzer‘ an als lineare Medien, Videoclips werden kürzer, Bildfolgen wechseln schneller, die genutzten ‚In‘-Plattformen wandeln sich von Facebook zu Tiktok u.v.a.m. Darauf reagieren Lehrkräfte in ihrem Unterricht. Einerseits indem sie in ihrem Unterricht mit ihren Schülerinnen und Schülern z. B. ein zunehmend passiv-rezeptives Medienverhalten kritisch reflektieren, genauso wie sie in ihren Unterrichtsmethoden auch aktiv-mediengestaltende Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler fördern und entsprechende Fertigkeiten einfordern. – Für das Gymnasium als Schulart, die von den Zielen der Vermittlung allgemeiner Studierfähigkeit, vertiefter Allgemeinbildung und von Wissenschaftspropädeutik geprägt ist, gilt jedoch, dass die verständige Rezeption und Produktion von Texten ihren grundständigen Ort sicherlich im Unterricht behält.

    Der Philologenverband fordert in seinem Beschluss eine „moderne digitale Infrastruktur. Diese ist durch ausgebildetes Personal der Sachaufwandsträger regelmäßig zu warten und es ist zu gewährleisten, dass erforderliche Reparaturen innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden.“ Wie sieht denn die Praxis derzeit aus?

    Susanne Lin-Klitzing: „Die Praxis sieht nach wie vor häufig so aus, dass sich der Mathekollege mit zwei Stunden Ermäßigung um die IT-Technik vor Ort kümmern muss. Das kann nicht sein – und darf vor allen nicht so bleiben. Deshalb haben wir von Anfang an einen professionellen IT-Support für die Schulen gefordert und bleiben bei dieser Forderung nach einem professionellen IT-Service, der durch die Sachaufwandsträger, hier in der Regel durch die kommunalen Schulträger, gestellt werden muss. Das Problem, das Bund, Länder und Kommunen zu lösen haben, ist eine bildungsgerechtere Schulfinanzierung, denn Schülerinnen und Schüler erfahren zwischen den Bundesländern und auch innerhalb ein- und desselben Bundeslandes deutliche Unterschiede, was die Sanierung ihrer Schulen, die Finanzierung des Schulbaus sowie den IT-Ausbau und die IT-Wartung an ihrer Schule betrifft. Die unterschiedliche Finanzkraft der Kommunen führt zu diesen Unterschieden, zu dieser Ungleichheit und zu entsprechenden Ungerechtigkeiten, was die Bereitstellung schulischer Voraussetzungen für zeitgemäßen Bildungserwerb anlangt.“

    Weiter heißt es in dem Beschluss des Philologenverbands: „Beim Einsatz von digitaler Technik und Software ist sicherzustellen, dass es zu keiner unangemessenen Leistungs- und Verhaltenskontrolle kommt.“ Und: „Bei der Einführung neuer Technik muss die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Gymnasiallehrkräfte oberstes Prinzip sein.“

    Susanne Lin-Klitzing erklärte dazu: „Für den souveränen Umgang mit dem digitalen Fortschritt an unseren Schulen und im Unterricht braucht es ‚Leitplanken‘, innerhalb derer sich die Nutzer, Lehrkräfte wie Schülerinnen und Schüler, sicher bewegen können. Gerade im Interesse einer positiven Nutzung des digitalen Fortschritts an Schulen braucht es Regelungen, die Lehrkräften wie Schülerinnen und Schülern Sicherheit geben, um das Potential eines digital klug unterstützen Präsenzunterrichts oder einer digitalisierten Schulverwaltung sicher nutzen zu können. Als Lehrkräfteverband setzen wir uns dabei selbstverständlich für die Interessen der Lehrkräfte ein – die hier mit den Interessen der Schüler, Schülerinnen und Eltern Hand in Hand gehen dürften. Eine lückenlose Nachkontrollierbarkeit von Lern- und Leistungsverhalten in pädagogischen Räumen wünscht sich sicherlich niemand aus den genannten Gruppen. Deshalb entspricht der Wunsch nach einer rechtzeitigen Klärung und Gewährung von datenschutzkonformer Rechtssicherheit bezüglich der in der Schule und im Unterricht digital gesammelten, gespeicherten und genutzten persönlichen Daten von Lehrkräften wie Schülerinnen und Schülern nicht einer ‚Digitalfurcht‘, sondern eher dem Aufstellen von ‚Leitplanken‘, bevor – um in diesem Bild zu bleiben – die Autobahn für den schnellen Verkehr freigegeben wird…“

    Die Digitalisierung dürfe weder zu einer Entgrenzung der Arbeitszeit noch zu einer Arbeitsverdichtung führen, sondern sei im Gegenteil bei der Festlegung des Unterrichtsdeputates zu berücksichtigen, so heißt es in dem Beschluss des Philologenverbands. Passiert das denn nicht?

    Susanne Lin-Klitzing antwortete: „Nein, das passiert noch nicht. Hier herrscht noch ein freies Spiel der Kräfte, besser: hier gibt es noch keine beiderseitig geklärten Dienstvereinbarungen. Um das Bild von eben aufzugreifen: Auch hier gibt es noch keine ‚Leitplanken‘, wie durch die ‚Umverteilung‘ von Arbeitszeit, Arbeitsgeräten und Arbeitsort z.B. mit Erwartungen von zeitnahen digitalen Rückmeldungen auch am Abend oder am Wochenende vom zuhause aus, wie es durch Corona Einzug gehalten hat, nun auf Dauer gut umgegangen werden kann und soll.“

    Frage: Die Digitalisierung kann dabei helfen, Inhalte zu visualisieren, besser verständlich zu machen (zum Beispiel in den Naturwissenschaften) und formale Abläufe zu beschleunigen. In Ihrem Beschluss schimmert Skepsis gegenüber der Digitalisierung durch – so ist darin von Chancen und Potenzialen keine Rede. Ein falscher Eindruck?  

    Die Vorsitzende des Philologenverbands sagte: „Hier bedarf es der zeitlichen und inhaltlichen Gesamtschau: Mit Beginn von Corona hat sich der Deutsche Philologenverband kontinuierlich durch konstruktive Vorschläge ausgezeichnet. Wir haben seit 2020 von der KMK über Corona-Hygienevorschriften hinaus inhaltlich bestimmte Ziele gefordert und dann selbst die Zielkonzeption eines „digital unterstützten Präsenzunterrichts“ benannt. Der Deutsche Philologenverband war der Erste, der in der Corona-Krise digitale Endgeräte für alle Schülerinnen und Schüler sowie entsprechende Dienstgeräte für die Lehrkräfte gefordert hat. Gemeinsam mit anderen Lehrerverbänden fordern wir zur Gewährleistung eines klug digital unterstützten Präsenzunterrichts an der Schule professionelle IT-Administratoren, einen angemessenen, standardisierten Datenschutz – und keinen, der sich von Land zu Land unterscheidet -, einhergehend mit der Forderung nach adäquaten Lernplattformen – und wir fordern vor allem entsprechende Lehrerfortbildungen, um das inhaltliche Potential von Digitalität im Unterricht besser ausschöpfen zu können. Hierzu sind wir dann eigenständig und konstruktiv vorangeschritten: Der Deutsche Philologenverband hat erfolgreiche Online-Fortbildungsangebote für Lehrkräfte aller Schularten, insbesondere natürlich für die Gymnasiallehrkräfte, ebenso wie für die Lehrkräfte an den Deutschen Schulen im Ausland in Kooperation mit ARD, ZDF und Wikimedia konzipiert, organisiert, durchgeführt und tut dies noch.

    Mittlerweile sind wir in einer anderen Phase, nachdem eine zunehmend digitale Unterstützung bzw. Durchführung des Unterrichts bedingt durch Corona Hals über Kopf geleistet werden sollte. In der jetzigen Phase bedarf es für die souveräne Nutzung des vorangegangenen „Hals-über-Kopf-digitalen-Fortschritts“ an den Schulen eben jener beschriebenen „Leitplanken“. Das ist keine prinzipielle Skepsis, sondern eine Vorsorgehaltung, ebenso wie im Zuge der fortschreitenden Entwicklung selbstfahrender Autos die Haftungsfrage am besten vor potenziellen Unfällen geklärt werden sollte…“

    Wie, meinen Sie, sieht der Unterricht der Zukunft am Gymnasium aus?

    Prof. Lin-Klitzing antwortete: „Die durch die Digitalisierung zur Verfügung stehende Fülle an Informationen bedarf entgegen häufig zu hörender anderslautender Einschätzungen schülerseits eher mehr an Wissen, eben mehr an Vorwissen, um die riesige Fülle der nun digital zur Verfügung stehenden Information überhaupt sinnvoll in bereits bestehende Kategorien geordneten Wissens einordnen und subjektiv bildungsbedeutsam werden lassen zu können. Am Gymnasium sind dazu mit seinem Ziel der Vermittlung von vertiefter Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und Studierfähigkeit für Schülerinnen und Schüler sicherlich einerseits gute Voraussetzungen gegeben, gleichwohl darf der Anspruch an eine hohe Fachlichkeit gymnasialer Bildung und Lehrerbildung eben gerade deshalb auch nicht gesenkt werden. Was die Unterrichtsgestaltung anlangt, gehe ich von einem lebendigen, interaktiven, digitale Angebote ebenso selbstverständlich wie lineare Medien nutzenden Unterricht aus.“

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