Niedersachsens Kultusminister Tonne: „Deutschland muss geschmeidiger und flexibler werden” 

    Grant Hendrik Tonne (45, SPD) ist seit 2017 Kultusminister in Niedersachsen, Credit: MK-Niedersachsen/Hollemann 

     

    Von KAROLINA PAJDAK 

    Hannover – Er ist der jüngste Kultusminister, aber nicht der unerfahrenste. Im Gespräch mit PROFIL erklärt Niedersachsens Bildungschef Grant Hendrik Tonne (45, SPD), wie Schülerinnen und Schüler in seinem Bundesland Corona-Lücken” schließen, wo es Probleme mit der Digitalisierung gibt und, warum Niedersachsen nicht zu 24 Monaten Referendariat zurückkehren wird. 

    PROFIL: Minister Tonne, was macht für Sie eine gute Lehrkraft aus? 

    Grant Hendrik Tonne: Eine gute Lehrkraft versteht es, die individuellen Stärken von Kindern und Jugendlichen zu fördern und ihnen die Freude und Neugierde am Lernen zu vermitteln. Sie unterrichtet mit Empathie, Motivation und einer zugewandten Haltung, die auf die stetige Weiterentwicklung und das Wohl der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet ist. Sie übt ihren wichtigen und verantwortungsvollen Beruf mit hoher Professionalität aus. 

    PROFIL: Wann haben Niedersachsens Schülerinnen und Schüler das, was durch Corona auf der Strecke geblieben ist, aufgeholt? 

    Tonne: Die pandemiebedingten Einschränkungen wurden im Unterricht entsprechend berücksichtigt, der Lernstoff für alle Fächer angepasst. Niemand muss also die Sorge haben, einen Nachteil zu erleiden. Die Kerncurricula in Schule sind so aufgebaut, dass sie innerhalb der Schullaufbahn mehrfach und mit unterschiedlicher Tiefe behandelt werden. Daraus ergibt sich gerade bei besonders wichtigen Themen die Möglichkeit, zu kurz Gekommenes nachzuholen. Ich finde es aber ausdrücklich falsch, die Folgen der Einschränkungen und Belastungen für die Kinder und durch die Corona-Pandemie auf das Thema Lernrückstände zu verkürzen. Es sind im sozial-emotionalen Bereich durch Kontaktbeschränkungen, Einsamkeit, überbordenden Medienkonsum, aber auch durch Bewegungsmangel und falsche Ernährung im Körperlichen viele Schäden entstanden. Wir müssen die Kinder und Jugendlichen in Gänze betrachten und werden gesamtgesellschaftlich viel mehr zurückzugeben haben als verpassten Lernstoff. 

    PROFIL: Welche Elemente aus der Pandemie werden sich auch nach deren Ende im Schulbetrieb halten? 

    Tonne: Die Pandemie hat die Digitalisierung an den Schulen deutlich beschleunigt. Vieles davon wird bleiben und weiterentwickelt. So haben wir beispielsweise mit der Niedersächsischen Bildungscloud ein sich stetig erweiterndes Angebot an Lernprogrammen und Online-Tools, das inzwischen von mehr als 1600 Schulen genutzt wird. 

    PROFIL: Es gibt weiterhin Klagen über mangelnde digitale Endgeräte, fehlende pädagogische Digital-Konzepte, etc. Wie beurteilen Sie den Digitalisierungsfortschritt in Ihren Schulen? 

    Tonne: In dieser Legislatur wurde der Ausbau der IT-Infrastruktur mit Hochdruck vorangetrieben. Über den DigitalPakt Schule stehen bis 2024 522,8 Millionen Euro aus Bundes- und Landesmitteln zur Verfügung, um Schülerinnen und Schülern digitales Lernen zu ermöglichen. Hinzu kommt das Sofortausstattungsprogramm für digitale Endgeräte. Mit rund 52 Millionen Euro konnten die Schulen für das Lernen zuhause bedarfsgerecht ausgestattet werden. Nahezu alle öffentlichen Schulträger haben ihre Mittel aus diesem Programm beantragt, fast 50 Millionen Euro sind inzwischen bewilligt. Leider ist die Umsetzung noch nicht überall abgeschlossen, da aufwendige Ausschreibungsverfahren und lange Lieferzeiten die Auslieferung der Geräte stellenweise verzögern. Insgesamt sind wir aber ein ordentliches Stück weitergekommen und ich bin guter Dinge, dass die Entwicklung in diesem Bereich weiterhin positiv sein wird. Dazu gehört auch die Weiterentwicklung der pädagogischen Konzepte und der Lehrkräftefortbildung. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Verfahren bundesweit zu träge und bürokratisch waren, halt nicht krisenangemessen. Das nervt viele, die an der Basis die Arbeit machen – und zwar zu Recht. Da muss Deutschland insgesamt lernen und geschmeidiger und flexibler werden. 

    Lesen Sie hier das PROFIL-Interview mit Sachsen-Anhalts Kultusministerin Eva Feußner!

    PROFIL: Wie funktioniert die Abstimmung mit den Schulträgern? Ist eine Unterstützung nach Auslaufen der Sonderprogramme gewährleistet? 

    Grant Hendrik Tonne: Die Schulträger sind unsere Partner beim „Digitalpakt Schule“. Auf ihren Antrag hin werden die Mittel vergeben und dann von ihnen eingesetzt. Die neue Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag auf den DigitalPakt 2.0 verständigt. Unser Ziel ist eine nachhaltige Aufgabenteilung von Bund, Ländern und Kommunen in Fragen der Ausstattung von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften. Ebenso aber auch die Lösung der Frage der Administration an den Schulen, für die das Land schon jetzt eine erhebliche Summe zur Verfügung stellt. 

    PROFIL: Wird es digitale Prüfungsformate in Niedersachen geben? 

    Tonne: Es ist heute bereits möglich, Hilfsmittel, wie z. B. Taschenrechner und Wörterbücher, durch entsprechende Programme auf digitalen Endgeräten zu ersetzen. Die Weiterentwicklung der Prüfungen mit zentralen Aufgabenstellungen findet behutsam und in Zusammenarbeit aller Bundesländer statt. Es muss gründlich überlegt werden, welche Kompetenzen auch mit digitalen Formaten geprüft werden können. Insbesondere mit Blick auf den Korrekturaufwand und die Objektivität der Beurteilung bieten digitale Prüfungsformate aber durchaus Potenzial. 

    Lesen Sie hier das PROFIL-Interview mit KMK-Präsidentin Karin Prien!

    PROFIL: Wie wollen Sie künftig ein Abitur auf hohem Niveau sichern?  

    Grant Hendrik Tonne: Das niedersächsische Abitur bleibt anspruchsvoll. In den schriftlichen Prüfungen werden landesweit zentrale Aufgabenstellungen verwendet, die mit großem Aufwand und entsprechender Sorgfalt erstellt werden. In Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch werden schon seit 2017 länderübergreifende Aufgaben eingesetzt, die auf KMK-Ebene entwickelt werden. Ab 2025 wird das auch in den naturwissenschaftlichen Fächern der Fall sein. 

    Wir evaluieren die Aufgaben und leiten aus wenig zufriedenstellenden Ergebnissen ernsthafte Folgerungen ab, wie z. B. mit einer von der KMK beschlossenen, langfristigen Fortbildungsinitiative im Fach Mathematik.   

    PROFIL: Die KMK ermöglicht es Abiturienten, durch sämtliche Basiskurse in Deutsch und Mathematik in der Oberstufe „durchzufallen“. Der DPhV kritisiert das scharf. Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie?  

    Tonne: In Niedersachsen ist das nicht möglich. Da in Mathematik und Deutsch Ergebnisse aus jeweils 4 Schulhalbjahren einzubringen sind, müssen mindestens ein oder zwei Ergebnisse über 5 Punkten liegen. Zudem können keine Halbjahresergebnisse mit 0 Punkten berücksichtigt werden. 

    Selbstverständlich wollen wir auch weiterhin sicherstellen, dass die Schülerinnen und Schüler in den Kernfächern Deutsch und Mathematik gute Kompetenzen erwerben. Unsere niedersächsischen Vorgaben sind darauf ausgerichtet und auch die aktuelle Diskussion in der KMK zur Erhöhung der Vergleichbarkeit des Abiturs in den Ländern ist von dieser Absicht geprägt. 

    PROFIL: Der DPhV spricht sich dafür aus, dass in allen Bundesländern möglichst viele Oberstufenkurse in die Abiturwertung eingebracht werden. Wie positionieren Sie sich in dieser Frage? 

    Grant Hendrik Tonne: Es kommt nicht allein auf die Zahl der Kurse an. Wenn Sie z. B. eine sehr hohe Zahl von Kursen vorschreiben, die in die Abiturwertung eingebracht werden müssen, dann werden viele Fächer nur mit zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden können. Hier leidet nach unserer niedersächsischen Auffassung die Bildungsqualität dieser Fächer. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, grundsätzlich alle Fächer gleich zu behandeln und dabei Fächer auf erhöhtem Anforderungsniveau fünfstündig zu unterrichten und auf grundlegendem Anforderungsniveau dreistündig. Das sichert den fachlichen Anspruch. 

    PROFIL: Der DPhV setzt sich für die Rückkehr zu 24-Monaten-Referendariat ein. Wie gestaltet sich in Niedersachsen die Zukunft der Lehrerausbildung?    

    Tonne: Im Vorbereitungsdienst werden die im Studium erworbenen Kompetenzen erweitert und im Hinblick auf schulpraktische Anforderungen vertieft. Der Vorbereitungsdienst schließt mit einer lehramtsbezogenen Staatsprüfung in zwei Fächern ab. Diese bewährten Strukturen werden wir beibehalten. Die hohe Anzahl erfolgreich bestandener Staatsprüfungen ist zudem ein klares Indiz dafür, dass die lange Ausbildungszeit weder hinsichtlich des Studiums noch in Bezug auf den Vorbereitungsdienst einer Verlängerung bedarf.  

    PROFIL: Fortbildung und Weiterbildung gewinnen zunehmend an Bedeutung. Können Sie den Anspruch der Lehrkräfte auf regelmäßige und vor allem fachbezogene Fortbildungen gewährleisten? 

    Tonne: Niedersachsen ist hier gut aufgestellt. Die Kompetenzzentren für regionale Lehrkräftefortbildung und das NLQ sind eng miteinander verzahnt und können die wissenschaftliche Expertise der Universitäten und anderer Einrichtungen vollumfänglich nutzen. Allen Angeboten liegen die aktuellen Ergebnisse der pädagogischen und fachwissenschaftlichen Forschung zugrunde. Dies ist ein echter Mehrwert in der Fort- und Weiterbildung. Damit können wir uns bundesweit sehen lassen.  

    PROFIL: Alle Schulen sind in Niedersachsen inklusive Schulen. Die Förderschule Lernen soll in den nächsten Jahren auslaufen.  Wird es ein Wahlrecht der Eltern für den Besuch einer Förderschule oder einer inklusiven Schule geben? 

    Tonne: Grundsätzlich entscheiden die Erziehungsberechtigten, an welcher Schulform sie ihr Kind anmelden. Hinsichtlich des Förderschwerpunktes Lernen sind die Übergangsvorschriften zur inklusiven Schule zu beachten. Förderschulen im Förderschwerpunkt Lernen dürfen längstens bis zum Ende des Schuljahres 2027/2028 fortgeführt werden. Zum Schuljahr 2022/2023 dürfen an dieser Schulform also letztmalig Schülerinnen und Schüler in den 5. Schuljahrgang aufgenommen werden. 

    PROFIL: Wie wollen Sie die mangelhafte Unterrichtsversorgung von unter 100 Prozent bedarfsgerecht steigern, ohne dass es zu dramatischen Unterrichtsausfällen kommt? 

    Grant Hendrik Tonne: Die Sicherung der Unterrichtsversorgung ist eine Daueraufgabe von hoher Priorität. Einzelne Maßnahmen müssen dabei immer wieder der Entwicklung angepasst werden. In den letzten Haushaltsjahren ist es regelmäßig gelungen, deutlich mehr Lehrkräfte einzustellen, als dauerhaft aus dem Dienst ausgeschieden sind. Dennoch: Auch für Niedersachsen ist und bleibt es eine Herausforderung, alle ausgeschriebenen Stellen zu besetzen und Bedarfe zu decken. Wir müssen die Attraktivität des Berufes insgesamt steigern, Anreize setzten, damit junge Lehrkräfte auch Stellen außerhalb ihrer Wunschstadt und Wunschschule annehmen und wir müssen flexibler werden, was Quereinsteigende angeht. An allen diesen Punkten arbeiten wir sehr konkret in Niedersachsen.  

    PROFIL: Schon vor Corona haben Untersuchungen in Niedersachsen ergeben, dass Lehrkräfte überlastet sind und ihre Arbeitszeit über der durchschnittlichen Soll-Arbeitszeit liegt. Welche Schritte zur Entlastung sind geplant?  

    Tonne: Alle Lehrkräfte arbeiten hart und viel. Aber: Die Belastung der Lehrkräfte stellt sich im Detail sehr unterschiedlich dar. Sie ist abhängig von der Schulform, aber auch von der Funktion, die Lehrkräfte innerhalb einer Schule haben. Die Schritte, die wir im Herbst 2019 angekündigt und teilweise umgesetzt haben, sind durch die Corona-Pandemie an vielen Stellen verzögert worden. Dieser Faden wird wieder aufzunehmen sein, um allen Lehrkräften zu ermöglichen, sich in ihrer Arbeitszeit auf den Bildungserfolg ihrer Schülerinnen und Schüler zu konzentrieren. Dazu bleiben wir auch weiterhin mit den Verbänden der Lehrkräfte im Gespräch. 

    PROFIL: Die Wertschätzung der Lehrkräfte zeigt sich auch in einer leistungsgerechten Besoldung und Sonderzuwendungen. Wird es da Veränderungen geben? 

    Tonne: Das Land Niedersachsen hat in den letzten Jahren viel getan. Die Bezüge sind von 2019 bis heute kräftig gestiegen und wir haben eine monatliche Stellenzulage für die Lehrkräfte der Besoldungsgruppe A 12 eingeführt. In diesem Jahr wird es zudem eine Corona-Sonderzahlung im März und ab Dezember eine Steigerung der Bezüge für die niedersächsischen Tarifbeschäftigten und die Beamten geben. 

    PROFIL: Eine große Zahl von Lehrkräften ist schnell ausgebrannt und gesundheitlich angeschlagen. Nur ein geringer Prozentsatz bleibt bis zum Pensionseintrittsalter im Dienst. Dabei werden alle gebraucht. Was tut Niedersachsen, um möglichst viele im Dienst zu halten? 

    Tonne: Vor über 10 Jahren wurden wir alle durch die enorme Zahl an Frühpensionierungen aufgeschreckt. Nur jede sechste Lehrkraft wurde regelgerecht pensioniert. Mittlerweile sind die Zahlen deutlich rückläufig geworden. Das Kultusministerium trägt als großer Dienstherr und Arbeitgeber die Gesamtverantwortung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz aller Beschäftigten in den Schulen. Daher greifen wir auf ein umfassendes Gesundheitsmanagement zurück, das von Beratungsangeboten für Lehrkräfte mit Burnout, über Anlaufstellen für Suchtfragen bis hin zum begleiteten Berufseinstieg reicht. Die Angebote werden regelmäßig auf ihre Wirksamkeit überprüft und den Erfordernissen entsprechend angepasst.   

    PROFIL: Die Eigenverantwortliche Schule hängt sehr von der Qualifikation der Schulleitungen ab. Personalführung ist ein ganz entscheidendes Merkmal. Welche Rolle spielt das bei der Auswahl und Fortbildung von Schulleiterinnen und Schulleitern? 

    Grant Hendrik Tonne: Personalführung und -entwicklung spielen eine große Rolle bei der Auswahlentscheidung. Für neu ernannte Schulleitungen und deren ständige Vertretungen werden zudem vom NLQ verpflichtende berufsbegleitende Qualifizierungen und Fortbildungen zu verschiedenen Fachgebieten angeboten. Auch hier wird dem Thema der Personalführung ein hoher Stellenwert eingeräumt. In Niedersachsen haben Schulleiterinnen und Schulleiter innerhalb der Schule eine zentrale Stellung mit weitreichendem Aufgabenspektrum und entsprechenden Entscheidungsbefugnissen. Folglich stellt Schulleitung ein eigenes Berufsbild mit eigenem Anforderungsprofil dar. Um dieser besonderen Stellung gerecht zu werden, hat das Kultusministerium gemeinsam mit Interessenvertretungen der Schulleitungen, erfahrenen Schuleiterinnen und Schulleitern sowie den Regionalen Landesämtern für Schule und Bildung und dem Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung das „Berufsbild Schulleitung“ für alle öffentlichen allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen erarbeitet. Es setzt Standards und beschreibt die Erwartungen, die an die Arbeit und Haltung von Schulleitungen gestellt werden. 

     

     

     

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