Ein Wissenskanon für das Fach Geschichte

    Es ist ein großes Projekt, das sich der ehemalige Hamburger Bildungs-Staatsrat Dr. Reinhard Behrens vorgenommen und umgesetzt hat:

    Wissenskanon für das Fach Geschichte

    ein Wissenskanon für das Fach Geschichte mit 109 Leitbegriffen, jeweils auf erklärende, weiterführende, fragende und zu selbständigem Forschen  einladende Texte verlinkt. Auf der eigens dafür eingerichteten Website wissenskanon-geschichte.de stellt der promovierte Historiker seine mehr als 60 Seiten Geschichtswissen zur Diskussion. „Mein Anliegen ist es, eine bessere politische Diskussionskultur zu erreichen durch gemeinsame, fachlich gesicherte historische Begriffe für die aktuelle politische Diskussion”, erklärt Behrens. Er mache sich Sorgen, dass Schülerinnen und Schülern heute „grundlegendes Orientierungswissen” im Fach Geschichte fehle. „Übertriebene Kompetenzorientierung zu Lasten von Orientierungswissen, ist wie Mauern ohne Ziegelsteine”, sagt er. Das Internet sei in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem Ort der Fake News geworden. Behrens: „Wer mit einem Begriff wie ,Merkel-Diktatur’ um sich wirft, sollte erst einmal wissen, wie schlimm eine Diktatur wirklich ist.”  

    Reinhard Behrens hat mit Pandemie-Beginn im Frühjahr 2020 sein Wissenskanon für das Fach Geschichte-Projekt gestartet, Credit: privat

    Den vollumfänglichen Kanon, den Behrens gern zur Diskussion stellen möchte erreichen Sie über www.wissenskanon-geschichte.de. Diskussionsbeiträge können Sie gern per Mail an presse@dphv.de und r.behrens@wissenskanon-geschichte.de senden! 

    Diskussion zum Wissenskanon für das Fach Geschichte

    Was müssen unsere Schüler wirklich wissen?

    Einen Wissenskanon für das Fach Geschichte wie den von Dr. Peter Behrens – brauchen wir ihn an weiterführenden Schulen? In PROFIL diskutieren die Geschichtslehrer und Mitglieder des DPhV-Vorstands Dr. Marcus Hahn und Stefan Düll das Projekt. 

    Stefan Düll Wissenskanon für das Fach Geschichte

    Oberstudiendirektor Stefan Düll leitet das Justus-Liebig-Gymnasium in Augsburg und ist stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Düll hat Deutsch, Geschichte und Englisch an der LMU München studiert, Credit: privat 

    Dr. Marcus Hahn Wissenskanon für das Fach Geschichte

    Dr. Marcus Hahn ist Vorsitzender des Saarländischen Philologenverbandes und leitet den BPA im Deutschen Philologenverband. Er hat Geschichte, Germanistik und katholische Theologie an der Universität des Saarlandes studiert, Credit: DPhV

    PROFIL: Herr Düll, Herr Hahn, brauchen wir einen Geschichtskanon?  

    Stefan Düll: „Geschichte”, also das, womit Schülerinnen und Schüler sich im Geschichtsunterricht auseinandersetzen, ist immer bereits eine Art „Kanon”, also eine Vorauswahl aus der tendenziell unendlichen Vergangenheit, die nach fachdidaktischen und pädagogischen Aspekten von Unterrichtsfachleuten getroffen und in Bildungsplänen, Schulbüchern und Unterrichtssettings niedergelegt wird. Insofern haben wir einen Kanon bereits – und hatten ihn immer schon.  

    Marcus Hahn: In der Praxis lebt der Geschichtsunterricht vom fachbezogenen und methodengeleiteten Austausch von Schülern und Lehrkräften. Das erfordert eine Verständigung über Begriffe, Themen und Ziele des Austauschs. Besonders wichtig: Diese Verständigung muss schüler- und altersgerecht reflektiert sein. Deshalb gilt gerade im Fach Geschichte: „Reine” Kompetenzen ohne konkrete Inhalte und Themen kann es nicht geben.  

     

    PROFIL: Wie diskutiert man am besten einen solchen Kanon?  

    Düll: Wir im Philologenverband treten für einen hochwertigen, anspruchsvollen, eben gymnasialen Unterricht an, der die Entwicklung der Schüler fest im Blick hat und den aktuellen Forschungsstand der jeweiligen Bezugswissenschaft repräsentiert. Mit weniger dürfen wir uns auf keinen Fall zufrieden geben. Die Kompetenzorientierung hat in der Vergangenheit einen wesentlichen Beitrag zur Modernisierung des Unterrichts in diesem Sinne geleistet. Als Allheilmittel, als das sie in der ersten Euphorie von manchen angesehen wurde, kann sie nicht dienen. Das merkt man auch daran, dass sich die Debatte über guten Unterricht in vielen Fächern weiterentwickelt hat und dass die Frage nach dem Sinn und dem Nutzen eines Kanons neue Aufmerksamkeit gefunden hat. Offenbar empfinden viele einen Verlust an wesentlichem grundlegenden Wissen zugunsten einer vermeintlich inhaltsleeren Kompetenzorientierung. Historisches Wissen und historische Kritikfähigkeit ist als Kulturkompetenz ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis der Herausforderungen der heutigen Zeit.  

    Hahn: Die Aufgabe liegt darin, die richtige Balance zwischen allgemein formulierten Kompetenzerwartungen und thematisch-inhaltlich formulierten Beschreibungen von Wissen und Können zu finden. Diese Aufgabe ist nicht neu, sondern im Grund uralt; gerade im Fach Geschichte steht sie geradezu am Anfang des Fachs selbst, denn in der Entscheidung, mit wem welche Aspekte der Vergangenheit auf welche Weise zu ergründen sind, liegen ja die Wurzeln des Fachs, schon bei den frühesten Geschichten-Erzählern und Historikern der Antike. Vor dieser Aufgabe steht aber letztlich jede Lehrkraft permanent bei der Planung ihres Unterrichts. Die intermediären Institutionen wie z.B. Lehrplangestalter, Fachdidaktiker oder Schulbuchautoren müssen sich daran messen lassen, inwiefern sie die Lehrkräfte bei dieser Aufgabe optimal unterstützen.  

     

    PROFIL: Sollen die Schülerinnen und Schüler einen solchen Kanon auswendig lernen?  

    Düll: Wir im Philologenverband betonen: Auf Wissen und Können kommt es an. Daher gehört das Erlernen von bestimmten Kenntnissen in allen Fächern zur schulischen Bildung dazu. Welche Kenntnisse das konkret sind, wie sich die Auswahl des Lernstoffes z.B. durch die ubiquitäre Verfügbarkeit von Nachschlagewerken im Gefolge der Digitalisierung verändert hat – das sind genau die Detailfragen, die einer sachverständigen Prüfung und einer fortlaufenden Modernisierung durch Unterrichtsfachleute der einzelnen Fächer bedürfen. Memoriertes Wissen schafft in allen Fächern erst eine entlastende Grundlage, auf der vertieftes Wissen, Begreifen und Bewerten erst möglich ist.  

    Hahn: Wichtig ist dabei, vorab zu bedenken, welchen Stellenwert Auswendiggelerntes im Unterricht einnehmen soll. Geht es um Auswendiglernen um seiner selbst willen? Das ist wohl eher abzulehnen. Geht es aber darum, den Schülern durch verlässliche Sachkenntnis Selbstvertrauen und Urteilsfähigkeit zu verleihen, kann die Bewertung ganz anders aussehen.  

    PROFIL: Kanon und pädagogische Freiheit – passt das zusammen?  

    Hahn: Rein praktisch gesehen entlastet die Vorauswahl an Themen, die gängigerweise in Bildungs- und Lehrplänen vorgenommen wird, die Lehrkräfte bei der Vorbereitung und Durchführung ihres Unterrichts enorm. Wir erinnern uns mit Missfallen an die Anfangszeit der Kompetenzorientierung, als man in blanker Euphorie darauf setzte, nur noch Kompetenzen und Themengebiete festzulegen – und die inhaltliche Ausarbeitung dann den Schulen in Form eigener Curricula auferlegen wollte. Solche Experimente mit völlig inhaltsleeren Kompetenz-Lehrplänen sind gescheitert, auch daran, weil das eine massive Verschwendung von Arbeitskraft der einzelnen Lehrkräfte war.  

    https://dphv-verlag.cld.bz/Profil-6-2021PROFIL Ausgabe 6/2021 Titelblatt Geschichtsunterricht

    Düll: Jede Vorauswahl von Themen und Herangehensweisen muss man als die fachdidaktische Grundlage für die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte ansehen. Sie bildet die Basis, auf der die unterrichtenden Lehrkräfte mit Blick auf ihre Schüler ihre pädagogische Freiheit verwirklichen. An diesem Punkt gibt es zwischen Kompetenzerwartungen und kanon-orientierten Ansätzen keinen großen Unterschied, denn auch zu einseitig oder gar suggestiv formulierte Kompetenzerwartungen können die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte unsachgemäß beschränken.  

    PROFIL: Brauchen wir auch in anderen Fächern einen verbindlichen Kanon?  

    Düll: Die Kanon-Debatte ist nichts Neues: Zuletzt trugen die Germanisten in den Feuilletons eine solche Debatte für die Lektüre im Fach Deutsch aus. Insofern kann man sagen: Die Debatte über einen Kanon kann womöglich in allen Fächern einen guten Beitrag zur Selbstvergewisserung der Unterrichtsfachleute leisten. Wenn sie konstruktiv und sachverständig geführt wird, kann sie auch die Modernisierung der Fächer begünstigen.  

     

    Diesen und weitere Artikel finden Sie im aktuellen PROFIL.

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