„Corona Bildungsnotstand“: DAS muss die Politik jetzt für die Schulen tun

    Von SUSANNE LIN-KLITZING

    Berlin – Die Republik führt eine Debatte über „Betreuungsnotstand“ statt über „Bildungsnotstand“. Die Kultusminister kämpfen gegen den „Betreuungsnotstand“, statt den Kampf für guten Unterricht, kontinuierliche Bildungsplanung und auskömmliche Bildungsfinanzierung zu führen. Dafür unterzeichnen die Ministerpräsidenten deren Ländervereinbarung, die kein politisches Vorhaben für eine auskömmliche und gleichwertige Bildungsfinanzierung der Schulen enthält. Und in diesen Corona-Stress-Zeiten muss für eine verlässliche Abiturplanung gesorgt werden!

    Die Debatte um unsere Schulen in Zeiten des „Corona-Bildungsnotstandes“, um das „Recht auf Bildung jedes Kindes“ gerade in Corona-Zeiten beherrscht die Öffentlichkeit und ist zum Mantra der Politik, insbesondere der Kultusministerinnen und Kultusminister geworden. Es ist eine verlogene Debatte. Denn die Debatte um den „Bildungsnotstand“ in Corona-Zeiten ist in Wahrheit eine Debatte um den „Betreuungsnotstand“ in Deutschland. Dass für die Minister und Ministerpräsidenten „jede Unterrichtsstunde zähle“, ist ein unglaubwürdiges Lippenbekenntnis. Das erkennt man an vielem. Den letzten „Bildungsnotstand“ hatten wir nach der PISA-Krise ab dem Jahre 2000. Gemäß vieler Interpreten der deutschen PISA-Ergebnisse wurde die deutsche Schule, das deutsche Schulsystem damit zum „Hort der Bildungsungerechtigkeit“. Nun in Corona-Zeiten ist dieselbe deutsche Schule, dasselbe deutsche Schulsystem in wenigen Wochen zum „Hort der Bildungsgerechtigkeit“ geworden: Noch im März letzten Jahres (Reproduktions-)Stätte der Bildungsungerechtigkeit, nun wenige Wochen später, nämlich nach den Osterferien letzten Jahres Stätte der Bildungsgerechtigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung: ein Wunder.

    Dieses Wunder lässt sich allerdings wahrhaft leicht „entmythologisieren“: Es geht in Corona-Zeiten eben gar nicht um „Bildungsnotstand“, sondern es geht um „Betreuungsnotstand“ der deutschen Gesellschaft in Corona-Homeoffice-Zeiten. Deshalb die Funktionalisierung der Schule jetzt zum Hort der Bildungsgerechtigkeit und deshalb kämpfen die Kultusminister nun im Interesse der Wirtschaftsminister und der Ministerpräsidenten fortan um jede Unterrichtsstunde.

    Wir Lehrkräfte und der Deutsche Philologenverband auch. Allerdings schon länger und vor allem ganz anders:

    Ja, wir haben einen „Bildungsnotstand“, das aber ist ein altbekannter Bildungsnotstand, auf den der Deutsche Philologenverband schon lange hingewiesen hat: Das Bildungshaus Deutschlands ist leider nicht auf Fels, sondern auf Sand gebaut. Tatsächlich auf Fels und nicht auf Sand bauen, hieße nämlich, für eine verlässliche Bildungsplanung und auskömmliche Bildungsfinanzierung zu sorgen, konkret für:

    • eine kontinuierlich ausreichende Lehrerversorgung (am besten eine 130%-Unterrichtsversorgung),
    • eine fachlich und pädagogisch ausreichende und auf hohem Niveau – für alle Länder – standardisierte Nachqualifizierung von Quer- und Seiteneinsteigenden in den Lehrberuf,
    • Schulgebäude, die von ihrer Architektur und ihrer Raumbelüftung her es verdienten, Schule als Lebensraum genannt zu werden,
    • eine gute Versorgung mit zeitgemäßen Lehr- und Lernmitteln für alle Schülerinnen, Schüler und ihre Lehrkräfte
    • eine gute Ausstattung aller Schulen
    • eine Bildungsfinanzierung, die nicht abhängig ist von den unterschiedlichen Budgets und Schwerpunkten der Kommunen bzw. Schulträger ist und die nicht auf der Antragsstrecke zwischen Bund, Ländern und Kommunen hängen bleibt.

    Das alles ist nicht der Fall.

    Ja, und insofern haben wir tatsächlich einen „Bildungsnotstand“, allerdings einen jahrzehntealten, der nun Kinder, Lehrkräfte und Eltern in Corona-Zeiten einholt.

    Nur aktuell den „Bildungsnotstand“ über alle Schüler und insbesondere über den jetzigen Prüflingen auszurufen, ist Alarmismus, der fehl am Platze ist. Denn undifferenzierte „Notfallmaßnahmen“ verdecken eher den tatsächlichen Bildungsplanungs- und Bildungsfinanzierungsnotstand, als dass sie ihn bei der Wurzel packten und beheben wollten.

     

    Lesen Sie hier auch das Interview mit KMK-Präsidentin Britta Ernst

     

    Die Chance, an diesen Problemen etwas zu tun, wurde (fast?) vertan. In der KMK-Ländervereinbarung vom 15.10.2020, den die Kultusministerinnen und Kultusminister anstelle eines Bildungsstaatsvertrags nun den Ministerpräsidenten zur Abzeichnung vorlegen, haben sie es versäumt, die Bildungsplanung und Bildungsfinanzierung auf ein neues Fundament zu stellen. Die Baustelle Bildungsfinanzierung durch die Kommunen bleibt explizit Baustelle und wird nicht angegangen. Und so machen auch die Ministerpräsidenten nun weiter zwar Kultuspolitik in der Corona-Krise, das aber nicht richtig. Eine der wesentlichen Bildungsbaustellen bleibt durch diese Ländervereinbarung willentlich und wissentlich unbearbeitet – und diese wird voraussichtlich wohl ein halbes Jahrhundert gültig sein.

    Dass verlässliche Bildungsplanung und auskömmliche Bildungsfinanzierung gerade so wie bisher nicht funktionieren, haben wir unter anderem bei der ´Kuddelmuddel-Finanzierung` von Bund, Ländern und Kommunen bei der Digitalisierung gesehen: Selbst wenn Geld da zu sein scheint, fällt es offenbar schwer, es vernünftig und zeitangemessen auszugeben.

    Es ist und bleibt ein Skandal, dass die Bildungsfinanzierung der Schulen genauso bleibt, wie sie ist – und dass die Kultusministerkonferenz hier keinen Reformbedarf sieht. Die zukünftige Bildungsfinanzierung ist dort kein „politisches Vorhaben“. Gleichgültiger kann man diesem Problem nicht gegenüberstehen als mit Artikel 21 der Ländervereinbarung: „Die Kommunen verantworten im Rahmen ihrer landesgesetzlichen Aufgaben insbesondere die bauliche Einrichtung, die Ausstattung und den Betrieb von Schulgebäuden, sie schaffen die notwendige lokale Bildungsinfrastruktur und wirken partnerschaftlich bei der Zusammenarbeit bei aller an Bildung Beteiligten vor Ort mit.“

    Die KMK zementiert damit, dass die Kommunen für die äußeren Schulangelegenheiten zuständig bleiben. Das führt auch in Zukunft zur bleibenden ungleichen Ausstattung der Schulen im selben Bundesland und in der ganzen Republik, eben weil die Kommune der Schulträger ist. Die Ministerpräsidenten der Länder täten gut daran, diese Ländervereinbarung nicht zu unterschreiben, bevor hier nicht zumindest Pilotprojekte als „politische Vorhaben“ aufgenommen worden sind.

    Das Bildungshaus wird ansonsten weiterhin auf Sand statt auf Fels gebaut. Das macht auch bekennende Föderalisten, zu denen sich der Deutsche Philologenverband zählt, nachdenklich, wenn die Kultusministerkonferenz als das Ordnungsorgan im Kulturföderalismus keine Notwendigkeit zu gemeinsamen Normen

    • bezüglich ausreichender Lehrkräfteversorgung und deren Nachqualifizierung,
    • zur für alle Länder verbindlichen Dauer des Vorbereitungsdienstes der Lehrkräfte statt des herrschenden Kunterbunts von 24, 21, 18, 16 und 12 Monaten,
    • und keinen Handlungsbedarf bezüglich der kontinuierlich ungleichen Bildungsfinanzierung der äußeren Schulangelegenheiten durch die Kommunen sieht.

    Das schafft keine gleichwertigen Lebensverhältnisse. Das soll sich aber gemäß der KMK, auch nach den Erfahrungen des Digitalpakts, nicht ändern. Insofern trifft Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) durchaus ins Schwarze, wenn sie neu über die Bund-Länder-Zusammenarbeit in der Bildungspolitik nachdenken will. Begonnen werden muss mit einem neuen Nachdenken über eine auskömmliche und für jede Schule und damit für jedes Kind gleichwertigere Bildungsfinanzierung. Eine politische Handlung der Ministerpräsidenten könnte hier den Auftakt setzen, zu der sie sich nicht einmal von der Bundesbildungsministerin anregen lassen müssen: Sie müssten nur die Ländervereinbarung ihrer Kultusministerinnen und -minister nicht unterzeichnen, bis diese ihre ureigenen Hausaufgaben für eine verlässlichere Bildungsplanung und für eine gleichwertigere, auskömmliche Bildungsfinanzierung der Schulen mit einem revidierten Artikel 21 gemacht haben.

    Auf welchen Untergrund wird nun im Corona-Stress das diesjährige Abitur stattfinden?

    Das Unterrichten und Lernen ist in dieser Corona-Krise für alle extrem emotional und gesundheitlich belastend. Das gilt auch für die diesjährigen Abiturienten. Relevante Zahlen, Daten, Fakten, aus denen Entscheidungen bezüglich der Abiturprüfungen abgeleitet werden könnten, hat die KMK jedoch – trotz rechtzeitiger Aufforderung durch uns, den Deutschen Philologenverband, bislang nicht erhoben: Wie viel (und welcher) Unterricht ist tatsächlich ausgefallen und wieviel wurde durch ausgefallene Klassen-, Kursfahrten und Projekttage davon wieder kompensiert?

    Einerseits ist nun zu konstatieren, dass die Kultusministerinnen und Kultusminister in der KMK erfreulich einmütig sind in der besonderen Berücksichtigung der Abschlussklassen. Aber auch hier gilt: Mögliche notwendige Flexibilitäten für das diesjährige Abitur sollten auf der soliden Analyse des Unterrichtsausfalls überlegt und vorausschauend verlässlich kommuniziert werden.

    Die Rede vom „Notabitur“ ist zum aktuellen Zeitpunkt daher eher populistisch und wird vor allem von denjenigen instrumentalisiert, die unter dem Mantra der „Bildungsbenachteiligung“ Leistungsstandards senken wollen. Denn anders als im vergangenen Jahr ist die Situation nun aber planbarer: Sie ist nicht gut, aber sie dürfte nun keinen Kultusminister und keine Kultusadministration mehr überraschen:

    • Prüfungen können da, wo nötig, zeitlich nach hinten geschoben werden. Thüringen und Bayern haben dies beispielsweise bereits getan.
    • Wir Lehrkräfte brauchen im Interesse der Schülerinnen und Schüler mehr Flexibilität bei der Auswahl der Prüfungsaufgaben für die Abiturklausuren. Es ist zwar richtig, durch bundeszentrale und landeszentrale Klausurthemenstellungen eine höhere Vergleichbarkeit der Abschlüsse anzustreben. Die Kultusministerien sollten aber in Corona-Zeiten nicht höhere Ansprüche stellen als in all´ den Jahren zuvor und durch zusätzliche Auswahlmöglichkeiten erlauben, auf den tatsächlich gelehrten Stoff einzugehen. Mit einer guten Planung kann es ein mit Blick auf das Bildungsniveau vollwertiges Abitur geben – wenn auch unter besonders belastenden emotionalen Umständen.
    • An der Breite der Themen kann man notfalls Abstriche machen, nicht aber an der Tiefe der Anforderungen. Studierfähigkeit bedeutet, an exemplarischen Inhalten vertiefte Kenntnisse erworben zu haben. Das kann und wird auch in diesem Jahr gelingen können.

    Unsere Abiturienten brauchen ein vollwertiges Abitur, denn die Anforderungen der Universitäten und der Ausbildungsinstitutionen sie sinken durch Corona nicht! Abiturientinnen und Abiturienten schlechter durch das Ausfallen oder Verwässern von Prüfungen auf ihre anschließende Studien- und Berufstätigkeit vorzubereiten, hilft ihnen und der Gesellschaft nicht.

    Deshalb erwartet der Deutsche Philologenverband nach wie vor von den Kultusministerinnen und Kultusministern:  „Erheben Sie jetzt die Daten und schaffen Sie rechtzeitig und verlässlich die Planungsgrundlagen für die Durchführung des nächsten Abiturs im Frühjahr!“

    Und von den Ministerpräsidenten erwarten wir noch mehr:

    „Setzen Sie tatsächlich einen neuen Schwerpunkt für eine bessere Bildungsfinanzierung gegen den überkommenen ´Bildungsnotstand`, der uns ansonsten auch nach Corona wird. Unterstützen Sie diesen nicht durch eine korrekturlose Unterzeichnung der Ländervereinbarung!“

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