Übergänge kind- und sachgerecht gestalten – Positionspapier des Deutschen Philologenverbandes

    Situationsanalyse: Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule

    In einem mehrgliedrigen Schulsystem stellt sich zwangsläufig die Frage der bestmöglichen Wahl der passenden Schulform. Das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland verdankt seinen Erfolg unter anderem der Expertise und der treffsicheren und zuverlässigen Empfehlung von Lehrkräften bei der Wahl der Schulform. Daher wurde in der Vergangenheit die Entscheidung für die passende Schulform im Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule durch Schulartempfehlungen geprägt, die meistens von hierin geschulten Grundschullehrkräften erstellt wurden, jedoch den Elternwillen ebenfalls angemessen berücksichtigten. In den vergangenen Jahren ist dagegen der Elternwille stark aufgewertet worden, mancherorts hat er eine Empfehlung vollständig ersetzt. Pädagogische Gründe für diese Entwicklung sind dabei nicht ersichtlich; vielmehr handelt es sich aus Sicht des DPhV in vielen Fällen um vorrangig politisch motivierte Entscheidungen.

    Die in vielen Bundesländern erfolgte Höhergewichtung des Elternwillens beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schulform hat ihre Ziele weitgehend verfehlt. Es ist nicht erkennbar, dass dieser Schritt zu mehr Chancengerechtigkeit oder zu weniger Problemen in der anschließenden Schullaufbahn der Schülerinnen und Schüler geführt hat. Auch die Treffsicherheit der Schullaufbahnentscheidung hat sich nicht verbessert.

    Zeitlich parallel zur Verlagerung der Verantwortung für die Schullaufbahnentscheidung nach Ende der Grundschule auf die Eltern wurde der Versuch der Standardisierung von Kompetenzerwartungen für die Klassenstufe 4 der Grundschule betrieben. Dieser Versuch ist bei den Fächern Deutsch und Mathematik steckengeblieben. Zudem weisen die Kompetenzstandards in der gegenwärtigen Form eine Reihe von Problemen auf. Die Kompetenzstandards für die Klassenstufe 4 in beiden Fächern definieren viel zu allgemein eine Gesamtsumme dessen, was in einem Fach gelernt werden kann, ohne ausreichend auf die entscheidenden Fragen nach der Altersdifferenzierung oder die tatsächliche Erreichbarkeit einzugehen (z.B. Kompetenzstandards Deutsch: „Die Kinder entwickeln eine demokratische Gesprächskultur“, S. 8).

    Die Kompetenzstandards setzen auch zu zaghafte Vorgaben bezüglich der Unterrichtsinhalte. Weiterhin bieten sie in der gegenwärtigen Form zu wenig Möglichkeiten für eine valide und reliable Testung, die belastbare Erkenntnisse im Hinblick auf die Schullaufbahnentscheidung erbringen könnte. Abgesehen davon werden entsprechende Tests in den meisten Fällen auch gar nicht erst angeboten. Der Wegfall der Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlung durch die Grundschule hat letztlich auch zu einer weitgehenden Entkoppelung der Grundschule von den weiterführenden Schulen geführt.

    Obwohl die Empfehlung der Grundschule für die weitere Schullaufbahn auch heute noch eine der zuverlässigsten Prognosen im ganzen Bildungsbereich darstellt, ist sie in fachlich[1]inhaltlicher Hinsicht weitgehend „entkernt“. Vielerorts unterscheiden sich die Schülerinnen und Schüler verschiedener Grundschulen und teilweise sogar verschiedener Klassen am Ende der 4. Klassenstufe sehr stark hinsichtlich ihres Wissens und Könnens, ihrer methodischen Kompetenzen und ihrer Haltung zum schulischen Lernen. In der Praxis führt das dazu, dass vielerorts in den Eingangsklassenstufen der weiterführenden Schulen aufwändige Einführungs- bzw. „Wiederholungs“-Einheiten durchgeführt werden müssen, und das sogar in den beiden Fächern, in denen Kompetenzstandards vorliegen. Das bedeutet für alle Beteiligten frustrierende Lernerfahrungen, eine vermeidbare Zusatzbelastung und Zeitverluste, die den Erfolg in den folgenden Lernjahren stark beeinträchtigen.

    Positionen des DPhV

    1. Normative Aspekte des Übergangs von der Grundschule zur weiterführenden Schule

    Der DPhV kritisiert, dass die Frage des Übergangs von der Grundschule zur weiterführenden Schule mancherorts als sozialpolitische Frage behandelt wird. Der DPhV erwartet stattdessen von der Schulpolitik der Bundesländer, dass sie diese Frage als fachlich-pädagogische Aufgabe ernst nimmt. Oberstes Ziel bei der Ausgestaltung des Übergangs muss es sein, die für jedes Kind richtige und sachgerechte Schullaufbahnentscheidung zu treffen, welche die bestmöglichen individuellen Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Dass dazu auch die maximale horizontale und vertikale Durchlässigkeit des Schulsystems gehört, ist für den DPhV eine Selbstverständlichkeit. Der DPhV spricht sich nachdrücklich für die Einhaltung einheitlicher Bildungsstandards beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule aus. Bundeslandspezifische Regelungen, die die Besonderheiten der jeweiligen Schulsysteme berücksichtigen, sollten folgende Qualitätskriterien erfüllen:

    • Sie stärken die Rolle des fachlich-pädagogischen Urteils der unterrichtenden Lehrkräfte in den Grundschulen und in den aufnehmenden Schulen im Prozess der Schullaufbahnentscheidung.
    • Sie führen zu breiterer Information der Eltern (ebenso wie aller anderen an der Schullaufbahnentscheidung Beteiligten) über die individuelle schulische Entwicklung des Kindes, unter anderem durch die Heranziehung von Noten und anlassbezogenen Testungen.
    • Sie sehen kindgerechte und praktikable, ergänzende Verfahren für den Fall vor, dass der Elternwille und die Schullaufbahnempfehlung nicht übereinstimmen (z.B. Probeunterricht, Erprobungsphasen, Aufnahmeprüfungen etc.) und stärken die horizontale Durchlässigkeit.
    • Sie sorgen für Aufklärung der Schüler und Eltern über die speziellen Entwicklungsmöglichkeiten, Erwartungen und Anforderungen der verschiedenen Schulformen für bzw. an die Schüler.
    • Sie stärken den fachlich-pädagogischen Austausch von Grundschulen und weiterführenden Schulen hinsichtlich der wechselseitigen Erwartungen. Entsprechende Ressourcen müssen zur Verfügung gestellt werden.

     

    2. Der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule als Aufgabe bildungspolitischer Steuerung

    Die in jüngerer Vergangenheit unternommenen Versuche zur bildungspolitischen Steuerung des Übergangs von der Grundschule zur weiterführenden Schule sind unzureichend oder sogar kontraproduktiv. Die Kompetenzstandards weisen in der gegenwärtigen Form erhebliche Mängel und Unzulänglichkeiten auf, so dass sie nicht als Ersatz für eine fachlich[1]pädagogische Beurteilung der Frage nach der richtigen Schulform für das Kind gelten können. Der DPhV spricht sich dafür aus, dass die Bildungspolitik kind- und sachgerechte Steuerungsinstrumente entwickelt, um den Übergang zwischen der Grundschule und den weiterführenden Schulen auszugestalten. Rein auf Kompetenzmodelle ausgerichtete Steuerungsinstrumente genügen dem nicht. Vielmehr ist eine Vielfalt von solchen Instrumenten zu entwickeln, die folgende Qualitätskriterien erfüllen:

    • Sie legen klar fest, was an Wissen und Können von Grundschülern am Ende der Klassenstufe 4 erwartet werden kann.
    • Sie basieren auf einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten zur lebensweltlichen Rückbindung von Unterrichtsinhalten ebenso wie auf einer altersgerechten fachlich-didaktischen Reduktion des Erwarteten.
    • Sie erlauben Testungen, die eine verlässliche Einschätzung des Grads des Erreichens dieser Ziele durch den einzelnen Schüler ermöglichen.
    • Sie richten die Erwartungen an Grundschüler sowohl fachlich-didaktisch als auch pädagogisch nicht nur an der Grundschule aus, sondern auch an den Erfordernissen der weiterführenden Schulen.
    • Sie erhöhen die Verlässlichkeit des tatsächlich erworbenen Wissens und Könnens der Schüler am Ende der Klassenstufe 4, unter anderem durch eine bessere Abstimmung der Lehrpläne, die unnötige Doppelungen verhindert und ein größeres Maß an Verbindlichkeit anstrebt.
    • Sie fördern einen engeren fachlich-pädagogischen Austausch zwischen den unterrichtenden Lehrkräften der Grund- und der weiterführenden Schulen. Beide Seiten sollten besser über die tatsächlichen unterrichtlichen Möglichkeiten und die jeweiligen fachlich-pädagogischen Schwerpunktsetzungen informiert sein.

     

    3. Der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule und das grundständige Gymnasium

    Die Hauptaufgabe der Grundschule besteht in der Vermittlung basaler Bildung für prinzipiell alle Kinder; das grundständige Gymnasium ist mit seinem Wissenschaftsbezug und seiner von Anfang an auf Studierfähigkeit ausgerichteten Arbeitsweise damit nur teilweise kompatibel. Diesen Grundwiderspruch kann auch ein optimal gestalteter Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule nicht lösen. Es ist daher weder sinnvoll noch vernünftig, unüberlegt möglichst viele Kinder auf das Gymnasium zu schicken. Die Gestaltung des Übergangs soll vielmehr möglichst vielen derjenigen Schüler, für die das Gymnasium zum Zeitpunkt des Übergangs die optimale Schulform darstellt, den Weg dorthin erleichtern. Um das zu erreichen, sollte das Übergangssystem auf folgende Prinzipien ausgerichtet werden:

    • Unter den heute gegebenen Lernvoraussetzungen sind Aspekte der individuellen Persönlichkeitsentwicklung und der grundlegenden Lern- und Arbeitsstrategien von entscheidender Bedeutung. Das Lernen am Gymnasium ist von Anfang an eher theoriebezogen, streng fachwissenschaftlich ausgerichtet und organisiert und stellt hohe Anforderungen an die individuelle Organisation des Schülers. Als Voraussetzung dafür müssen Schüler eine Vielfalt an Lern- und Arbeitsformen sicher beherrschen, mit hohen fachlichen Anforderungen und mit Zeitdruck gut umgehen können.
    • Ein gutes Übergangssystem gestaltet daher den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule weder prohibitiv („darf nicht auf die Realschule“) noch konfliktuell („Die Eltern wollen“), sondern strebt einen rational und auf möglichst sicheren Erkenntnissen basierenden Konsens der an der Schullaufbahnentscheidung Beteiligten an, beginnend bei den Schülern selbst, ihren Eltern, den unterrichtenden Lehrkräften der Grundschule bis hin zu den Lehrkräften der aufnehmenden Schule. Grundlage dieses Konsenses sollte eine valide Kenntnis der individuellen Lernentwicklung und des individuellen Leistungsstandes des Schülers sein. Diese Kenntnis sollte ihre Objektivität aus der fachlich-pädagogischen Qualifikation der Grundschullehrkraft und der Durchführung von sachgerechten Testungen beziehen. Die Reliabilität der Kenntnis über den Schüler sollte dadurch gestärkt werden, dass sie auch eng auf die zukünftigen Erwartungen der verschiedenen weiterführenden Schulformen an den Schülern ausgerichtet ist.
    • Der Konsens zwischen den an der Schullaufbahnentscheidung Beteiligten kann durchaus im Rahmen einer wechselseitigen Vereinbarung über den weiteren Schulbesuch des Kindes zwischen der aufnehmenden Schule und den Schülern und Eltern gefasst werden, der auf eine Selbstverpflichtung der Beteiligten abzielt.

     

    Leipzig, 30. November 2019

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